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N° 1353
13. - 24.04.2024

nächste Aktualisierung
am 20.04.2024



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Das Cuarteto Casals

Brahms ohne Bart

Spanien ist nicht als das Stammland des Streichquartetts bekannt: Als sich vor elf Jahren vier junge Spa nier zusammentaten, mussten sie sich noch Rat aus Deutschland holen. In der Zwischenzeit haben sie sich zu einem der interessantesten Kammermusikensembles entwickelt, die selbst junge Musiker unterrichten. Jörg Königsdorf belauschte die vier bei einer Aufnahmesitzung in Berlin.

Der kollektive Entspannungsseufzer war zu früh gekommen. »Danke, jetzt haben wir alles im Kasten«, hatte Aufnahmeleiter Martin Sauer eben noch das Ergebnis stundenlangen Herumfeilens in den Berliner Teldex-Studios abgesegnet, und nun sollen sie noch mal ran. »Und jetzt das Ganze einfach noch mal als Musik, ohne dass ihr an schwierige Stellen denkt«, ordnet die Stimme aus dem Off an – aus jahrelanger Erfahrung weiß Sauer, dass die besten Aufnahmeergebnisse oft dann zustandekommen, wenn die Last des Bewältigenmüssens von den Schultern der Musiker abgefallen ist. Und auch diesmal ist es so: Die heiklen Stellen im Finale von Haydns op. 33,4, die dem Cuarteto Casals vorher so viel Mühe gemacht haben, gelingen jetzt spielerisch und geläufi g, die Balance zwischen Tempo und Detail, die Grundlage aller Klassikinterpretation, stimmt und vier Minuten später dürfen die Musiker dann wirklich aufatmen.
In den letzten Jahren hatten die vier allerdings ausreichend Gelegenheit, sich an nervenzehrende Sitzungen im Aufnahmestudio zu gewöhnen: Die Aufnahme mit den sechs Haydnquartetten op. 33, die 2009 auf den Markt kommen soll, ist die sechste Einspielung des Cuarteto Casals. Debussy und Ravel, frühen Mozart und Zemlinsky, die Highlights der spanischen Quartettliteratur von Arriaga bis Turina haben sie seit ihrem CD-Debüt 2003 aufgenommen und sich über diese Seitenwege langsam an das Zentrum des Streichquartettrepertoires herangetastet. Jetzt, mit ihrer Aufnahme der drei Brahmsquartette, sind sie im Herzen der deutschen Romantik angelangt. »Brahms ohne Bart«, wollten sie zeigen, erklärt Cellist Arnau Tomàs Realp, mit 35 Jahren der Senior des Ensembles, »für uns steckt in Brahms noch eine ganze Menge Haydn. Mit der traditionellen Art, Brahms dick, dunkel und schwer zu spielen, konnten wir noch nie etwas anfangen.« Die Gleichberechtigung aller vier Pulte, der Wechsel der Primarius-Position zwischen den beiden Geigen, die Offenheit gegenüber historischer Aufführungspraxis (Haydn mit Barockbögen) und moderner Musik – das alles sind Merkmale des unverkrampften, frischen Stils, mit dem sich das Quartett in den letzten Jahren neben Formationen wie dem französischen Quatuor Ebène und dem deutschen Artemis-Quartett in die Spitzengruppe der jungen Streichquartette gespielt hat. Ein Aufstieg, der umso bemerkenswerter ist, als noch vor zehn Jahren wohl niemand zu prophezeien gewagt hätte, dass ein spanisches Quartett überhaupt jemals internationale Beachtung finden könnte.
Für die vier Musikstudenten des Konservatoriums Reina Sofia in Madrid, die sich 1997 mit der verwegenen Idee zusammentaten, ein Quartett zu gründen, bedeutete das zunächst einmal, dass ihnen daheim niemand etwas beibringen konnte. Mehner, Realp und sein jüngerer Bruder Abel gingen nach Deutschland, holten sich Rat unter anderem bei den Musikern vom Hagen- und vom Alban- Berg-Quartett und begannen schon bald, Preise einzusammeln: 2000 der erste Preis beim Londoner Quartett-Wettbewerb, 2002, nachdem der US-amerikanische Bratscher Jonathan Brown zum Ensemble gestoßen war, der Sieg beim Hamburger Brahms-Wettbewerb. Erfolge, mit denen die vier nicht nur in Europa, sondern auch im eigenen Land auf sich aufmerksam machten. »Am Anfang mussten wir ziemlich viel Überzeugungsarbeit leisten, bis uns die Veranstalter glaubten, dass es überhaupt ein Publikum für uns gibt«, erinnert sich Mehner. Doch das kam, war jung und neugierig und akzeptierte ohne Murren auch die zeitgenössischen Auftragswerke, mit denen das Cuarteto Casals dem Mangel an spanischer Quartettliteratur abzuhelfen versuchte. Heute sind die vier nicht nur mit etwa 20 Konzerten pro Jahr in den Konzertsälen des Landes präsent, sondern geben ihr Wissen an junge spanische Quartette weiter, die sich inzwischen an den Hochschulen formiert haben. Und Pablo Casals, der legendäre Namensgeber des Quartetts, wird sich droben im Cellohimmel sicher über den Erfolg der vier freuen. Und ihnen zu Ehren auf seiner Wolke noch eine Bachsuite anstimmen.

Neu erschienen:

Johannes Brahms

Streichquartette, Klavierquintett

Cuarteto Casals

harmonia mundi

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Jörg Königsdorf, 31.05.2014, RONDO Ausgabe 4 / 2008



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