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N° 1354
20. - 29.04.2024

nächste Aktualisierung
am 27.04.2024



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Im Doppelporträt: The King’s Singers und das Ensemble amarcord

A Cappella pur

Vor 40 Jahren sorgten die King’s Singers mit ihrer A-cappella-Kultur für eine Revolution des Ensemblegesangs. Manches hat das Leipziger Vokalquintett amarcord bei den 68ern aus England gelernt. Und doch haben die fünf ehemaligen Thomaner ein ganz eigenes, unverwechselbares Profi l entwickelt. Carsten Niemann hat beide Truppen belauscht und zu ihrer Kunst befragt.

Gemütlich schaukelt uns die leere Regionalbahn an einem grau verhangenen Januarsonntag durch das Münsterland. Der milde Grasgeruch, der den Waggon durchzieht, erinnert uns dezent an das Nahen der niederländischen Grenze. Wir aber verlassen den Zug bereits vorher, um unsere Schritte zum Schloss Ahaus zu lenken, das in fast gespenstischer Ruhe inmitten des dazugehörigen verschlafenen Provinzstädtchens liegt. Unbehelligt nähern wir uns dem Fürstensaal, aus dessen Tür warmes Licht und Stimmen von unwirklicher Schönheit und Präsenz dringen: Unverkennbar die Stimmen der King’s Singers. Die sechs Herren stehen im Halbkreis vor ihren Notenpulten, die kleinen Wasserfl äschchen zu ihren Füßen sind längst leergetrunken, aber die Musiker scheinen noch so intensiv mit dem Proben beschäftigt, dass sie unser Kommen nicht bemerken. Schließlich beenden sie die Probe mit einem satirischen Badelied: Begleitet von amüsiertem Gelächter und ernsthaften Einwürfen seiner Mitstreiter probiert Bass Stephen Connolly in Wort und Gesten aus, wie man musikalisch am glaubwürdigsten den Stöpsel zieht. Dann ist Pause – bis sich das verträumte Schloss wenige Stunden später mit dem gesamten Ahauser Abonnentenpublikum füllt. Seit Monaten ist das Konzert ausverkauft.
Der kurze Einblick in den Alltag der King’s Singers lässt uns ahnen, was es bedeutet, 100 Konzerte im Jahr zu geben, sechs Monate unterwegs zu sein und dabei jeden Tag aufs Neue beweisen zu müssen, eine lebendige Legende zu sein. »Das Ensemble künstlerisch frisch und lebendig zu halten, ist eine Herausforderung«, bestätigt Stephen Connolly. »Zumal eine Gruppe wie die unsere ja auch ziemlich leicht in ihrem eigenen Kokon leben könnte.« Dagegen hilft nicht nur die Zusammenarbeit mit zeitgenössischen Komponisten, die – wie gerade erst Michael Nyman – auch oft von sich aus an die Türe des Ensembles klopften. »Wir gehen mindestens einmal im Jahr raus und arbeiten mit Leuten wie Vladimir Ivanov vom Ensemble Sarband, oder George Shearing oder einem der Beach Boys zusammen «, sagt Connolly: »Das inspiriert auch über ein Projekt hinaus und hilft uns, in Kontakt mit der realen Welt zu bleiben.« Dass gleichzeitig der Kontakt zur eigenen Tradition nicht abreißt, dafür sorgt eine behutsame Staffelübergabe von einem King’s Singer zum nächsten. »Wir haben einen bemerkenswert geringen Umsatz an Sängern«, erklärt Countertenor Robin Tyson: Zur Feier des 40. Jubiläums des Ensembles werden sich die sechs aktiven King’s Singers mit 15 der nur 16 ehemaligen Mitglieder des Ensembles im King’s College Cambridge versammeln. »Die erste Besetzung, das waren sechs Freunde vom Chor des King’s College Cambridge «, erzählt Tyson. Sie arbeiteten hart – aber sie standen noch nicht unter dem Druck des Erfolgs: »Vor dem großen Debütkonzert, das sie 1968 als King’s Singers gaben, sangen sie viele Konzerte in Schulen – sie gaben sich fünf Jahre um herauszufinden, ob sie etwas daraus machen können.« Chorleiter David Wilcox, »immerhin einer der Vokalgurus der Zeit«, habe nicht an die Karriere seiner ehemaligen Schützlinge geglaubt: »Er konnte sich einfach nicht vorstellen, warum jemand ein paar Typen zuhören wollte, die ein bisschen geistliche Musik, ein paar Madrigale und ein bisschen Pop singen.« Doch bald hatten die King’s Singers eine 68er Revolution auf dem A-cappella- Sektor vollbracht – wenn auch auf die ihnen eigene feine englische Art. Mit der englischen Chortradition im Rücken eroberten sie ein breites Repertoire von Alter Musik bis zu den Beatles – und einen beachtlichen Teil des dazugehörigen Publikums.

Auch wenn in den 90er Jahren ein Boom der A-cappella-Bewegung stattfand und sich inzwischen das Berufsbild des Ensemblesängers herauszubilden beginnt, ist es für Gruppen mit klassischem Hintergrund nicht leicht, sich neben den King’s Singers zu profilieren. In Deutschland ist dieses Kunststück in den letzten Jahren vor allem dem Leipziger A-cappella- Ensemble amarcord gelungen. Hervorgegangen ist es 1992 aus den Reihen des Thomanerchors, dem übrigens nicht nur die jetzigen fünf Sänger, sondern sogar ihr Manager Tobias Rosenthal angehörten. Wir treffen drei der Herren im »Telegraph«, dem wenige Dutzend Schritte hinter der Thomaskirche gelegenen Stammcafé des Ensembles. Dass sie in der Vergangenheit schon mal mit der wohlwollenden Bezeichnung »deutsche King’s Singers« belegt wurden, freut die Sänger nur bedingt. »Alle nachkommenden Generationen haben sich in irgendeiner Form mit ihnen auseinandergesetzt oder ihre Arrangements gesungen«, sagt Bariton Daniel Knauft. Zugleich sei für ihn die Prägung durch das noch stärker auf Alte und Neue Musik spezialisierte Hilliard Ensemble größer gewesen. »Aber schließlich muss sich jeder selbst finden – jeder muss selbst ein erstklassiges Original werden.«
Viele erfolgreiche Vokalensembles verbinde freilich, dass sie aus einer Knabenchortradition hervorgegangen seien, meint Knauft. Wobei in der Unterschiedlichkeit der Chortraditionen auch ein Schlüssel für den eigenen Charakter der Gruppe liegt: Mit ihrem weicheren, warmen und runden Ton sowie dem Verzicht auf Countertenorstimmen setzt amarcord selbst bei Repertoireüberschneidungen einen deutlichen eigenen »deutschen« Akzent. Starke eigene Akzente konnte amarcord immer wieder mit seinen Repertoire-Entdeckungen setzen: Mit der Ersteinspielung einer Messe des Renaissancemeisters Pierre de la Rue taten sie sich im direkten Wettbewerb mit Spezialensembles für Alte Musik hervor. Nicht weniger leidenschaftlich tut sich Amarcord aber auch in Spätromantik und Impressionismus um.
Doch noch in einem weiteren Bereich konnte amarcord seine Neugier und Teamspielerqualitäten ausleben: 1997 hoben sie das Leipziger Festival für Vokalmusik »a-cappella« aus der Taufe. Von der legendären Jazzformation The Real Group über Basta bis hin zu Ikonen der Alte-Musik- Bewegung wie dem Huelgas Ensemble hat inzwischen so ziemlich alles, was in der Szene Rang und Namen hat, in der neuen deutschen A-cappella-Hauptstadt Station gemacht. Letztes Jahr ist sogar ein Wettbewerb für den Nachwuchs hinzugekommen: Ob Madrigale vorgetragen werden oder ein frech arrangierter Hit der finnischen Gruselbarden »Lordi«: Niveau und Ernsthaftigkeit der Bewerber sind Balsam für Castingshowgeschädigte Augen und Ohren. Die Gewinner erwartet aber auch ein echter Ritterschlag: Vorsitzender der Jury ist nämlich kein Geringerer als Simon Carrington – Gründungsmitglied der King’s Singers.

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Carsten Niemann, 07.06.2014, RONDO Ausgabe 2 / 2008



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