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RONDO: Maestro Pollini, 30 Jahre ist es nun her, da betraten Sie in ihrer Heimatstadt Mailand die Bühne, um ein Klavierrezital zu geben. Und bevor Sie anfingen, haben Sie versucht, eine Protestnote gegen die Abscheulichkeiten des Vietnamkrieges zu verlesen. Das Publikum gestattete es Ihnen nicht und forderte Sie unverhohlen auf, Sie mögen doch bitte Klavier spielen. Dann kam die Polizei, und das Konzert war beendet, bevor es begonnen hatte. Hatten Sie eine derartige Reaktion des Publikums erwartet?
Maurizio Pollini: Nein. Aber lassen Sie mich versuchen, diese Episode zu erklären. Das Konzert fand direkt nach der Bombardierung Hanois durch die Amerikaner statt. Dies bedeutete die nochmalige Eskalation eines grausamen und grässlichen Krieges, der er von Anfang an war. Die Protestnote bezog sich aber nicht auf den Krieg generell, sie bezog sich auf die Eskalation dieses Krieges. Zu jener Zeit erwartete ich, dass man über diese kurze Erklärung, die wirklich nur einige Worte umfasste, für einen Moment lang diskutieren könnte, bevor ich beginnen würde zu spielen. Aber es war vermutlich wirklich ein bisschen naiv von mir, das zu denken. Tatsächlich war die politische Situation in Italien damals sehr schwierig. Sie müssen sich vorstellen, 1969 hatte es die Bombe auf der Piazza Fontana in Mailand gegeben, viele Leute waren gestorben, es war ein fürchterlicher, erschütternder Augenblick. Ich war total schockiert, denn es sah absolut danach aus, als sei dieses Attentat von der extremen Rechten verübt worden, möglicherweise sogar mit der Hilfe des Geheimdienstes – das Mysterium ist bis heute nicht gelöst. Am Tag nach dem Bombardement sah ich eine Menge von Menschen, die gegen diesen Terror demonstrierten, die Reaktion war gut und richtig. Und so war eben die Atmosphäre in jenen Jahren, es gab eine enorme politische Spannung, und deswegen wohl vor allem war die Reaktion des Publikums bei meinem geplanten Klavierrezital so hysterisch.
RONDO: Gerade in der jüngeren Vergangenheit gab es eine Menge Probleme im italienischen Fußball – Bestechungsskandale, Ausschreitungen, sogar Todesfälle: Probleme, die aber nicht genuin dem Sport entspringen, sondern vorwiegend und meist soziale Ursachen haben. Fühlen Sie in einer gewissen Weise eine Verantwortung, auf das zu reagieren, was in einer Gesellschaft wie beispielsweise der italienischen geschieht?
Pollini: Ich will Ihnen, was das politische Engagement eines Künstlers betrifft, so antworten: Die Kunst selbst sagt schon alles, was ein Künstler tun kann, und ein Künstler kann sich gerade mit der Kunst, die er ausübt, hinreichend ausdrücken. Es ist nicht essentiell für ihn, das zu tun, was wir politisches Engagement nennen. Wenn er sich über seine Kunst hinweg engagieren will, ist das schön, aber er muss es nicht, es ist nicht wesentlich für ihn.
RONDO: Mit ihren Projekten wie »Progetto Pollini« oder »Perspektiven« in New York, Salzburg oder Wien haben Sie sich vor allem für die Verbindung der klassischen und zeitgenössischen Musik eingesetzt. Ist das auch so eine Art politischer Akt?
Pollini: Betrachten wir es einfach als eine kleine Förderung der modernen Musik.
RONDO: Die Erfahrung zeigt, dass das breite Publikum Werke von Nono, Berio und Stockhausen nicht ganz so lieb hat und eindeutig Kompositionen von Mozart, Beethoven und Schumann vorzieht.
Pollini: Egal, zeitgenössische Musik muss vor einem großen Publikum gespielt werden. Das ist auch der Grund, warum ich beides kombiniere, klassische und romantische Musik mit zeitgenössischer Musik. Gleichwohl habe ich Verständnis für jeden, der es vorzieht, einen einfachen Abend zu haben, wenn er ins Konzert geht. Meine Meinung ist diese: Das Publikum muss informiert werden. Und das ist in gleichem Maße die Aufgabe der Konzertveranstalter und der Künstler.
Jürgen Otten, 14.06.2014, RONDO Ausgabe 2 / 2008
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