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N° 1353
13. - 21.04.2024

nächste Aktualisierung
am 20.04.2024



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Fanfare

Einmal muss die Frage gestellt sein. Und da anscheinend niemand auf die Idee kommt, es zu tun, sei es nun an uns, in diese Bresche zu springen und sich hier in aller Öffentlichkeit zu erkundigen: Wann eigentlich schläft Daniel Barenboim? Wann fi ndet er die Zeit, sich auszuruhen? Wann entspannt sich dieser Mann? Grund unserer Besorgnis, die schon eine lange Weile andauert und uns zuweilen gar selbst um den Schlaf bringt, ist das Pensum, das der Dirigent, Pianist, Orchestererzieher, Musikpolitiker, Kindergartengründer (um nur die wichtigsten Professionen und Positionen zu nennen) absolviert. Beginnen wir in Mailand, an der Scala. Wochenlang war es ja wegen des Streiks ungewiss, ob die Premiere von »Tristan und Isolde« überhaupt stattfi nden könnte – was Barenboim selbstredend nicht davon abhielt, dortselbst auch noch das Verdirequiem zu dirigieren und Liszts Italien-Poèmes in die Tasten zu meißeln wie ein Bildhauer (Ausschnitt auf der RONDO-CD), übrigens beides sehr gekonnt, aber das nur am Rande. Am Ende einigten sich die Parteien, und der Lappen konnte hochgehen zu Patrice Chéreaus Inszenierung der zweiten Oper aller Opern (Platz eins ist »Don Giovanni« vorbehalten). Etwas schwer an Bedeutung war sie, diese Inszenierung, aber umso mehr Gefallen bereitete uns die musikalische Seite der Angelegenheit. Fast wie weiland Furtwängler bewegte Barenboim die Wagner’schen Klangmassen durch den Saal, mit scharfem Blick fürs Detail und mit viel Gefühl für die harmonische Bauart, für die vertikale Spannung. Wir wollen es eine tief reichende Durchdringung nennen und den Sängern unser Beileid aussprechen, dass sie in diesen pastosen Fluten versanken. Aber es gibt eben manchmal Wichtigeres als die menschliche Stimme.
Das wurde auch an der Staatsoper in Berlin deutlich, wohin wir nach dem Mailänder Schwefelbad mit Daniel Düsentrieb eilten; es stand, wenngleich nur als Koproduktion, die nächste Premiere an, die wir vor einem Jahr in Mailand verpasst hatten, schließlich kann man nicht überall zugleich sein. Wie dem auch sei, Unter den Linden gab es die Oper aller Opern: »Don Giovanni «. Über das, was auf der Bühne geschah, wollen wir lieber jenen hinlänglich bekannten schweren Mantel breiten, doch musikalisch war es durchaus nach unserem Geschmack, und der ist nun einmal, das wollen wir länger nicht verhehlen, einer, der sich aus den Idealen der Romantik herleitet und das ganze in die Welt wie eine Welterklärungsformel hinausposaunte »Authentische « und »Historische« einfach nur komplett übertrieben findet.
Übertrieben ist das richtige Wort. Übertrieben sind nämlich allzu häufi g die Bühnenbilder. Unglaublich viel Zeug steht da auf der Bühne nutzlos herum. Bei Achim Freyers »La Traviata«-Inszenierung, die wir in Mannheim sahen, war das gottlob ganz und gar anders. Ein leerer, schwarz ausgeschlagener Raum, das genügte, um die Seelenqualen der armen Violetta zu zeigen, die sich, das soll hier nicht unerwähnt bleiben, doch sehr offenherzig auf dem Boden wälzte, will sagen: Für Connaisseure des sichtbar Weiblichen war der Anblick Marina Ivanovas ein Genuss. Gleiches gilt für Kate Royal. Eine wirklich sehr schöne Frau. Und singen kann sie auch, und zwar wie eine Göttin. Wir können das bezeugen, weil wir die junge Dame in der Berliner Philharmonie erlebten, in einer Aufführung des Händel’schen »Messiah«. Einen derart himmlischen lyrischen Sopran haben wir lange nicht vernommen.
Ganz benommen davon, fuhren wir kurz nach Zürich. Und was erlebten wir? Die nächste schöne Frau, die dazu noch ätherisch schön singen kann. Angeles Blancas heißt diese Dame, und sie war die tragische Titelheldin Rachel in der tragisch-grandiosen Oper »La Juive« des heute von vielen tragisch unterschätzten Herrn Halévy, die David Pountney inszenierte und Carlo Rizzi dirigierte. An Angeles’ Seite glänzte Neil Shicoff als Eléazar. Beglückt von dieser Aufführung fuhren wir dann, wie jedes Jahr, zurück nach Berlin zum Silvesterkonzert der Philharmoniker. Auch diesmal war es sehr schön. Und erfrischend anders. Zumal Borodins »Polowetzer Tänze« aus der Oper »Fürst Igor« rührten unser Herz doch sehr und sorgten für einen wunderschönen Jahresabschluss. Wir wollen jetzt erst einmal ausschlafen. Bis zum nächsten Mal,
Ihr Tom Persich

Tom Persich, 21.06.2014, RONDO Ausgabe 1 / 2008



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