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N° 1353
13. - 24.04.2024

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am 20.04.2024



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Symphonie aerodynamique

Oder: Im Bauch des Walfisches

Es gibt Dinge, die man normalerweise nie zu sehen bekommt: Wenn die Firma »Rock-It-Cargo«, einer der weltgrößten Transporteure von Konzertequipment, zum Beispiel die Musikinstrumente eines großen Orchesters auf dem Luftweg quer durch Europa karrt. Mit einem Riesenfrachter vom Typ Antonov, der einst als Militärtransportmaschine in Afghanistan diente und später in die Zivilgesellschaft hinüberwechselte. Jürgen Otten hat sich für RONDO die schwebende Angelegenheit aus der Nähe angesehen und dabei erstaunliche Erkenntnisse gewonnen.

Manchmal ist das Leben ein Roman. Beispielsweise in diesem Augenblick, der sich anfühlt wie ein Traum, ein Traum knapp 6.000 Meter über der Erde, irgendwo zwischen Zürich und Lyon, an einem trübgrauen Tag, eingezwängt zwischen Metall und Stoff und Kälte und mit einer Coladose und einem Butterbrot in der Hand. Es ist ein Traum über das Fliegen, aber nicht über das Fliegen in der Moderne. Es ist ein Traum aus einer anderen Zeit. Und nur derjenige, der dabei gewesen ist, kann verstehen, warum es nichts Schöneres geben kann, als mit einem Frachtflugzeug des Typs Antonov, das irgendwann zwischen dem Ende des Zweiten Weltkriegs und dem Aufflammen der Studentenbewegung gebaut wurde, über den Wolken zu schweben und sich zu fragen, warum man eigentlich in seinem Leben überhaupt jemals etwas anderes machen konnte als mit diesem Ding durch die Lüfte zu fliegen, das aussieht wie ein Walfisch und das so sanft durch den Luftraum gleitet wie ein Stück Seife durch die nasse Hand und dazu noch in seinem Innern 35 Kisten voll von Musik verbirgt. Ein Traum nur? Nein. Es ist Realität. Und ein bisschen auch Geschäft am Rande der hehren Kunst. Den fliegenden Walfisch gibt es tatsächlich. Aber fangen wir lieber von vorne an.
Berlin, 22. November 2007, sechs Uhr morgens. Ein Wecker klingelt, irgendwo in der Welt. Es dauert eine Weile, bis man merkt, dass es der eigene ist. Wecker, die so tun, als ob sie irgendwo in der Welt klingeln, aber direkt neben einem stehen, sind grausame Wesen. Aber es nützt nichts. Der Flieger – zunächst nach München – wartet. Also hinaus aus der warmen Deckenschale, hinein in die Dusche, übers Leben nachdenken und das Wasser über den müden Körper rieseln lassen, danach heißen Kaffee einflößen, sonst fährt man womöglich noch zum falschen Flughafen. Der Auftrag ist klar formuliert. Er lautet: fliegen. Mit einer Antonov. Von Zürich, das zuvor noch ein Konzert bereithält, nach Lyon, begleitet von kostbaren Instrumenten im Schlund der Antonov: zwei Harfen, acht Kontrabässe, Schlagwerk. Sämtlich Instrumente, auf denen wunderbare Musik gemacht wird. Denn sie gehören jungen Musikern aus 29 Ländern der Welt, die in diesem Jahr das UBS Verbier Festival Orchestra bilden und als solches unter der Leitung von Charles Dutoit und mit der göttlichen Martha Argerich als Solistin durch die USA und quer durch Europa touren, mit einem Programm, das poetischer kaum denkbar ist: La Martha spielt das dritte Klavierkonzert von Prokofjew, nach der Pause folgt Berlioz’ Symphonie fantastique.
Der Flug nach München hat Verspätung. Der Grund ist Nebel in der bajuwarischen Metropole. Also noch einen Kaffee, die Zeitungen durchstöbern, Müdigkeit vertreiben. Kurz vor zehn hebt die Maschine ab, lauter Geschäftsleute, sehr beschäftigter Blick. Eine knappe Stunde später Landung in München. In der Halle wartet Dania. Die Studentin arbeitet bei Rock-It-Cargo Germany GmbH, dem deutschen Zweig der amerikanischen Firma gleichen Namens, die hauptsächlich Poptransporte übernimmt, gerne nur die ganz Großen. Rock-It-Cargo Germany hat sich dagegen auf Klassik spezialisiert. Und in diesem konkreten Fall die Aufgabe übernommen, die Tournee des UBS Verbier Festival Orchestra logistisch zu betreuen. Mit anderen Worten: Alles, was nicht in den Händen der Musiker bleibt vor und nach dem Konzert, wird von Rock-It-Cargo von A nach B und von B nach C etc. transportiert. Man verlässt sich darauf. In München heißt es erneut: warten. Die Maschine nach Zürich ist überbucht, die Lufthansa bietet Entschädigung an, sehr lustig übrigens. Entweder man nimmt den Einkaufsscheck für 350 Euro, um damit in einem der Lufthansashops sündhaft teure Sachen zu kaufen, die man schon immer nicht wirklich benötigte, oder man nimmt den 250 Euro-Coupon, um ihn später in einem Lufthansabüro in Bares einzutauschen. Wir sind inzwischen zu dritt, Annette, die Fotografin, ist zu uns gestoßen. Wieder Kaffee trinken, einander erzählen, was man so macht, und darüber debattieren, warum eigentlich Preußen und Bayern sich immer in die Quere kommen und was man daran ändern könnte, alles in einiger Heiterkeit. Die kurz nach drei eine Fermate erhält, denn es ist soweit. Das Flugzeug startet gen Zürich. Wackeliger Flug. Ist eben auch keine Antonov. Aber das wissen wir zu diesem Zeitpunkt noch nicht.

Entscheidend ist, dass die Instrumente im bestmöglichen Zustand am Abend exakt da sind, wo sie hingehören.

Vor der Tonhalle in Zürich parkt der Truck, der die schwer wiegenden Instrumente vom Flughafen hierher transportiert hat. Die Kisten stehen im Foyer des schmucken Konzerthauses. Vor ihnen steht Andreas Mattick. Der Boss. Der Mann, der die logistischen Entscheidungen zu treffen hat. Der verantwortlich ist für das Drumherum um die hohe Kunst, für Frachtverträge, Zollgebühren, Start- und Landegenehmigungen, einen Truckparkplatz, für mögliche Risse in einem der Instrumente, für mögliche Verspätungen, ist dazu da, um etwaige Konflikte zu schlichten. Eine enorme Last, die da auf seinen Schultern liegt, könnte man meinen. Doch der Rock-It-Cargo Chef hat anscheinend die Schriften Senecas gelesen, im Besonderen den Traktat »Von der Gemütsruhe«. Nichts, was ihn aus der Fassung bringen könnte, gar nichts. Ein echter Stoiker, freundlich, zuvorkommend. Profi.
Das UBS Festival hat gut daran getan, ihn zu verpflichten. Mattick ist gewissermaßen der dritte Mann, den man nicht sieht, wenn man nicht will, dessen Arbeit aber reibungslos funktioniert, selbst dann, wenn es Probleme gibt. Probleme werden nicht als solche behandelt, sondern als Optionen, für die man Lösungen findet. Mattick findet sie, wissend, dass das von ihm erwartet wird, und er findet sie immer. Denn niemand unter den Künstlern interessiert wirklich, was zwischen den Konzerten passiert, ob ihre Instrumente mit einem Lastkraftwagen, einem Düsenjet oder mit einem Zeppelin durch die Welt transportiert werden. Entscheidend ist, dass die Instrumente im bestmöglichen Zustand am Abend exakt da sind, wo sie hingehören. Bislang war das stets der Fall, in Los Angeles ebenso wie in New York, Houston, Chicago, Genua und Stockholm, und auch an diesem kalten Abend in Zürich ist das nicht anders. Der Saal ist proppevoll, nicht zuletzt deswegen, weil rund 600 Kunden einer der größten internationalen Banken im Parkett sitzen. Dass einige von ihnen nach dem ersten Satz des Prokofjewkonzerts applaudieren, nun, das gehört eben zum Geschäft.
Nicht direkt zum Geschäft gehört gottlob die Kunst. Und die bewegt sich an diesem Abend autark und auf hohem Niveau. Nach einer glanzvoll pointierten Interpretation des Klavierkonzertes durch Martha Argerich geleitet Dutoit die hochbegabten Musiker mit Verve und stilistischem Feingespür für die diversen Energiefelder der Musik durch die Berliozpartitur. Das besitzt Feuer, Zauber, Leidenschaft, und es besitzt etwas, was bei Jugendorchestern nicht immer zu hundert Prozent anzutreffen ist: Präzision. Chapeau!
Der nächste Morgen. Wieder klingelt ein Wecker irgendwo in der Welt um sechs Uhr. Eine Stunde später treffen wir am Aviation-Center des Züricher Flughafens ein, und mit uns die Crew der Antonov. Sieben Männer, an der Spitze Kapitän »Lalu« Lalev. Anfang 50, grau meliertes Haar, sehr netter Gesichtsausdruck. Auch seine Mitstreiter haben entweder einen Kurs im Lächeln absolviert, oder sie wissen einfach, wie einzigartig es ist, mit einer Antonov zu fliegen, die in Sofia ihren Heimathangar hat und in Kasachstan zugelassen ist. Nur einer, der lächelt nur verstohlen. Stanley. Stanley kümmert sich ums Radio und zeichnet später die Landebahn in Lyon auf ein weißes Stück Papier. Er trägt eine Jacke mit der Aufschrift »U. S. Air Force«, er scheint Amerika wirklich zu lieben. Aber Stanley ist kein Amerikaner und heißt auch gar nicht Stanley, sondern Stanislaw. Wie die anderen ist er Bulgare. Und wie sie alle irgendwie wunderbar verrückt. Mit einem Kleinbus geht es aufs Rollfeld. Und da steht er, der Walfisch. Riesig, dreckig, mit vier Propellern und einem Vorhängeschloss am Cockpit. Ein Flugzeug aus einer anderen Zeit, aus einer anderen Welt. Daneben der Truck mit den Instrumenten, die jetzt umgeladen werden, hinein in den Schlund des Flugzeugs. Um Viertel nach zehn hebt dieses ab wie eine Feder und schwebt hinaus aus der Schweiz, hinein in die Wolkenbänke. Der Traum beginnt, eine Stunde lang dauert er. Aber es ist wie eine halbe Ewigkeit. Oder wie in einem Roman.

Jürgen Otten, 21.06.2014, RONDO Ausgabe 1 / 2008



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