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N° 1354
20. - 26.04.2024

nächste Aktualisierung
am 27.04.2024



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Musik der Welt

Barden und Volkssänger

+ Etta Scollo und ihre Lieder über sizilianische Legenden + Ensemble Gaguik Mouradian und die Tradition der fahrenden Sänger Armeniens + Sardische Sängerwettstreite +

Das Meer und die Sonne fehlten ihr am meisten, hatte die Wahldeutsche Etta Scollo einmal bekundet, wohl wissend, dass es wie ein Klischee klingt. Fern der Heimat, das weiß jeder Emigrant, sind die Bindungen zu den eigenen Wurzeln besonders stark. So singt sie seit einigen Jahren mit wahrer Inbrunst traditionelle Weisen, die nicht einmal mehr die Großväter kennen oder, wie auf »Les Siciliens« (Premium Records/Soul Food PRE 018), Lieder aus eigener Feder, die nicht weniger dezidiert sizilianisch sind, in ihrem Dialekt, ihrer Melodik, ihren Inhalten. Es sind in der Berliner »Bar jeder Vernunft« aufgenommene Livegesänge einer modernen Bardin zu Geschichten, Gedichten und Legenden eines »imaginären und alltäglichen Sizilien«. Einst war sie nach Wien gezogen, wo sie Gesang studierte und sich so gekonnt in Jazz und Blues vertiefte, dass sie sogar mit Größen wie Eddie »Lockjaw« Davis oder Champion Jack Dupree auftrat. Den Österreichern ist sie aber wegen eines italienisierten Beatlesstückes als Popstar in Erinnerung. Dann zog sie weiter, von Hamburg nach Berlin. Das alles hat dazu beigetragen, dem sizilianischen Folk der zur Gitarre Singenden eine Bandbreite zu verleihen, die selbstbewussten Regionalismus nie in Provinzialismus abgleiten lässt. So findet sich in ihrem überwiegend deutschen Begleitensemble neben dem Typischen (Mandoline, Akkordeon) auch so Exotisches wie die schwedische Nickelharpa. Mit ihrer kehligen Stimme singt sie sich die Seele aus dem Leib. Schade ist nur, dass man es kaum versteht, selbst wenn man des Italienischen mächtig ist. Man spürt die Wucht der Emotionen, doch weiß man nicht, dass z.B. der elende Tod bei der Arbeit in der Schwefelgrube Grund der Erregung ist. Ein Link zur Homepage führt zu italienischen Übersetzungen der sizilianischen Verse und führt zu Geschichten wie jener über den mythischen Meeresbewohner Colapesce, der – einem Atlas gleich – auf seinen Schultern Sizilien trägt, damit es nicht versinkt.
Eine ausführliche Textbeilage mit Liedtexten gibt es hingegen bei »Goussan. Bardes d’Arménie« des Ensembles Gaguik Mouradian (Accords croisés/harmonia mundi AC 120). Mouradian, seines Zeichens expressiver Interpret der Fiedel Kamantcheh, musiziert hier mit Sängern und ausgezeichneten Instrumentalisten, deren Instrumente – Zither, Lauten, Flöte und Trommel – und ihre Spielweisen auf die benachbarten Kulturbereiche Persien und Türkei verweisen, wiewohl Armenien ein christliches Land ist. Das Ensemble führt uns in die seit dem Mittelalter lebendige dichterisch-musikalische Tradition kaukasischer Troubadoure ein. Der Ursprung dieser Gesänge fahrender Sänger liegt noch in prächristlichen Zeremonien, die mit Mourané, der Mutter der Armenier, oder mit ihrem Sohnes Guissiané, von dem sich der Begriff »Gusan« (Volkssänger) ableitet, verbunden waren. Diese Musiker, Poeten und Erzähler werden auch »Ashugs« genannt, was so viel wie »Liebende« heißt und auf ihr wichtigstes unter allen erdenklichen epischen, philosophischen und gesellschaftlichen Themengebieten hinweist. Gedichte und Weisen klassischer Barden – der berühmteste ist der Mozartzeitgenosse Sayat Nova – sind heute noch der breiten Bevölkerung bekannt und werden hier innig, berührend dargeboten. Heute gibt es noch im Kaukasus »medjlis« genannte Dichtertreffen, die in dieser Region stattfinden. Improvisatorische Wechselgesänge werden da von Solisten oder ganzen Chören aus dem Stand erfunden.
Improvisationswettstreite gibt es auch in Sardinien, einer Insel, die weit mehr für Vokalpolyfonie bekannt ist als für eine Musikform, die stark an Flamenco erinnert, aber außerhalb der Heimat kaum je bekannt geworden ist. Mehrere Volkssänger versammeln sich bei einer »gara«, einem Wettbewerb im »Cantu a chiterra« (Gesang zur Gitarre – so heißt auch das Album Ocora/harmonia mundi C 560206), um einen Saitenschläger und improvisieren zu einer möglichst abwechslungsreichen Begleitung Melodien. Obgleich der hellhörige Gitarrist auf stereotype Muster zurückgreift, muss er doch voraushorchend den vermuteten Verlauf des Gesanges berücksichtigen. Die Sänger tragen auch beim noch so leidenschaftlichen Liebeslied Würde und äußerste Selbstkontrolle zur Schau. Ziel ist es, die Mitbewerber in Klangfülle, melodischem Einfallsreichtum, Atemkontrolle und Ausdauer zu übertreffen. Ein gewisses Gewicht liegt daher auf langen Phrasen und lang gehaltenen, fortissimo gesungenen, mitunter hohen Tönen. Dieser »Gesangssport« hat sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts aus zwangloserem Kräftemessen beim Serenadensingen entwickelt. Zeugnis ihres Alters sind die Texte. Sie werden nie improvisiert, sondern basieren überwiegend auf Gedichten aus dem 19. Jahrhundert, die mündlich überliefert wurden.

Marcus A. Woelfle, 21.06.2014, RONDO Ausgabe 1 / 2008



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