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N° 1353
13. - 23.04.2024

nächste Aktualisierung
am 20.04.2024



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Iván Fischer

Der Andersdenker

Als Revolutionär würde er sich nicht bezeichnen – aber als Andersdenkenden schon. Mit seinem Budapest Festival Orchestra stellt Iván Fischer jedenfalls so manche Gewissheiten und Gewohnheiten der Orchesterlandschaft in Frage. Carsten Niemann traf den ungarischen Dirigenten in seinem Nebenwohnsitz in Amsterdam.

Ich habe einmal ‚Also sprach Zarathustra‘ dirigiert“, erzählt Iván Fischer am Ende des langen Gesprächs. „Zwischen den letzten Pizzikatoklängen gibt es eine totale Stille im Publikum, in der man wirklich eine Nadel fallen hören würde. Und da, vor der letzten Note, erklang aus dem Publikum plötzlich ein Mobiltelefon – mit der ‚Wilhelm Tell’-Ouvertüre.“ Ein grauenhafter Moment? Nicht für Fischer: „Plötzlich fing das ganze Publikum an, so ein Geräusch zu machen, so ein halb verstocktes Lachen – und ich fand das wunderbar: wie so etwas Kindlich- Groteskes in einem Konzertsaal entsteht. Das war das Lustigste, was man sich vorstellen kann – ein toller Moment!“
Keine Frage: Iván Fischer hält nicht nur Gegensätze aus, er hat auch die Gabe, sie zusammen zu denken. Kein Zufall, dass Fischer gerade mit Einspielungen von Sinfonien Mahlers auf sich aufmerksam macht: Werke eines Komponisten, der wie kein anderer Hohes und Profanes, Pathetisches und Naives zu verbinden wusste. Als Spross einer österreich-ungarischen, jüdischen Musikerfamilie seien ihm wohl noch einzelne Vokabeln aus Mahlers Sprache vertraut: „Ich weiß noch, dass mein Urgroßvater ein böhmischer Ladenbesitzer war – genau wie Mahlers Vater. Die wohnten vielleicht gar nicht weit weg von einander und diese Melodietypen hängen noch in der Luft in Ungarn.“
Die ersten starken Erinnerungen an Mahlers Sinfonien selbst sammelte der 1951 geborene Fischer jedoch in seiner Studienzeit. Damals erlebte er mit, wie Bernstein mit den Wiener Philharmonikern Mahler wiederentdeckte. In diese Zeit fiel noch eine weitere prägende Begegnung: nämlich die mit der Alten Musik. Mehr noch als Nikolaus Harnoncourt, bei dem er später assistierte, habe ihn „die etwas radikalere holländische Generation“ um Gustav Leonhardt und Frans Brüggen fasziniert. „Und so bin ich nach meinem Studium in die Niederlande gekommen, um das kennen zu lernen.“
Die Aufbruchstimmung, die er in dieser Szene erlebte, vermisste Fischer jedoch bald in seiner Arbeit mit Sinfonieorchestern: „Als junger Dirigent bin ich von einem Orchester zum anderen geflogen, aber irgend etwas hat mich gestört. Und nach der Probe habe ich mir immer den Kopf zerbrochen: Um Gottes willen, was ist das, das uns überall so einengt und das Musizieren so mechanisch und steif macht? In diesen Hotelzimmersessions habe ich mir Notizen gemacht, ich habe fast ein Buch zusammengeschrieben: sehr komplizierte Ideen von Stimmungen und menschlichen Beziehungen und Regeln.“ Fischers Fazit: „Es gibt fantastische Strukturen in unserer Orchesterlandschaft, die den Musiker als Arbeitnehmer schützen. Aber es gibt kaum Strukturen, die den Musiker als Künstler schützen. Und so bin ich nach acht Jahren zu der radikalen Entscheidung gekommen, dass ich ein neues Orchester gründen muss, um das Individuum zu schützen und die Kreativität frei zu machen.“
Dass Fischers 1983 gegründetes Budapest Festival Orchestra keine Kopfgeburt ist, hört man sofort: Auffallend präsent, flexibel und durchsichtig folgen die Musiker dem Dirigenten und erfüllen seine zahlreichen Rubati von innen mit Leben. Wie man das macht? „Es sind 100 kleine Maßnahmen“, sagt der Dirigent: „Es gibt z.B. eine große Palette von kammermusikalischen Aktivitäten oder Projektleitungen. Es kann sein, dass ein zweiter Geiger plötzlich ein eigenes Programm zusammenstellt, und es gibt auch Rotationen, bei denen Leute Konzertmeister werden, die das sonst nicht machen.“ Und der Dirigent? „Wenn jemand eine Kunstaktivität führt, dann hat man bessere Chancen, dass etwas Interessantes herauskommt, wenn man die totale Autorität dieses Einzelnen zulässt.“ Dennoch könne man ein Orchester dabei wie ein Regisseur aufbauen, der mit Schauspielern so arbeitet, dass sie aus sich selbst die Kunst entwickeln, so dass man nicht sofort Regeln und Anweisungen folgt, sondern den inneren Klang sucht. „Es klingt natürlich wie eine Unmöglichkeit“, sagt Fischer, „aber es ist gar nicht so unmöglich.“

Neu erschienen:

Gustav Mahler

2. Sinfonie

Lisa Milne, Birgit Remmert, Hungarian Radio Choir, Budapest Festival Orchestra, Iván Fischer

Channel Classics/harmonia mundi

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Richard Strauss

Josephslegende

Iván Fischer, Budapest Festival Orchestra

Channel Classics/harmonia mundi

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Carsten Niemann, 06.09.2014, RONDO Ausgabe 2 / 2007



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