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In der Sonnhalde, einer schmucken Straße im Freiburger Nobelviertel Herdern, wohnte während seines letzten Lebensabschnitts der Tenor Werner Hollweg, der am 1. Januar 2007 im Alter von 70 Jahren verstarb. Hollweg litt seit fast einer Dekade an der degenerativen Nervenkrankheit ALS (Amyotrophe Lateralsklerose), die unaufhaltsam immer umfangreichere Lähmungen verursacht und schließlich zum Tode führt. Zum Zeitpunkt des Interviews konnte sich Hollweg schon nicht mehr allein in seiner Wohnung im Erdgeschoss einer hübschen Doppelhaushälfte bewegen. Da er den anberaumten Gesprächstermin erst am Folgetag wähnte, wäre das Interview beinahe geplatzt, denn RONDO-Autor Michael Wersin stand vor verschlossener Tür. Nach mehrfachem Läuten bereits wieder zum Gehen bereit, hörte er aus dem Innern des Hauses deutliche Hilferufe. Erschrocken klingelte er an mehreren Türen in der Nachbarschaft, bis er jemanden fand, der einen Schlüssel zu Hollwegs Wohnung besaß. Hollweg hatte nicht nur den Interviewtermin verwechselt, sondern saß tatsächlich auch völlig hilflos in seinem Bett, denn er war in eine Position gerutscht, aus der er nicht einmal sein Telefon erreichen konnte. Bemerkenswert ruhig und humorvoll quittierte er den Menschenauflauf, ließ sich aufhelfen, bekam einen Bademantel über seinen Frottee-Schlafanzug gezogen und war bereit zum Gespräch.
Ohne Scheu berichtet Hollweg nun über seine Krankheit, die ihn irgendwann im Jahre 2003 – bis dahin gab er noch vereinzelt Liederabende – endgültig zur Aufgabe seiner künstlerischen Tätigkeit zwang: „Durch ALS verlieren bestimmte Nerven ihre Funktion; bei mir waren es Nerven in der streckenden Muskulatur. Es beginnt in den Extremitäten und geht dann zur Körpermitte, irgendwann auf den Hals, so dass man nicht mehr schlucken kann und künstlich ernährt werden muss – mir blieb das bisher erspart. Außerdem ist das Zwerchfell betroffen, das bei mir nur noch rudimentär vorhanden ist: Ich kann nicht mehr tief einatmen – Sie hören, wie kurzatmig ich beim Sprechen bin – und kann auch nicht im Liegen schlafen, denn die Gedärme drücken dann das Zwerchfell nach oben, was zum Ersticken führen würde. So geht das fort, bis irgendwann, wie Beethoven in seinem Heiligenstädter Testament schreibt, die Parzen den Faden brechen.“
Auch Stephen Hawking und Jörg Immendorff, so Hollweg, haben ALS. Allerdings ist die Krankheit so selten – ca. 6.000 Fälle in Deutschland –, dass die Pharmaindustrie bisher kein Medikament dafür entwickelt hat; lediglich ein einziges Präparat verhindert zumindest das Aussetzen des Schluckreflexes. Die massiven Atembeschwerden kann man als besonders perfide Finte des Schicksals betrachten, denn Hollweg war einst bekannt für seinen schier unendlichen Atem, den er sich schon als Kind, so meint er, durch das Singen von Volksliedern in liegender Position mühelos antrainierte. Dass er einmal Sänger werden würde, stand damals bei Weitem noch nicht zur Debatte:
„Ich wollte Pianist werden, spielte auch schon ganz keck Klavier, und dann gab es im Alter von 13 Jahren eine Jungenkeilerei. Plötzlich riss einer sein Taschenmesser raus, stach wild um sich und schnitt mir den ganzen Arm auf. Alle Sehnen waren durchtrennt; damit war der Pianist ex und hopp.“
Die Hand des verletzten Arms blieb immer langsam, obwohl die Sehnen wieder zusammengenäht werden konnten. Als 20-Jähriger strebte Hollweg dann zunächst eine Schauspielkarriere an, bis er in der Düsseldorfer Schauspielschule, die er eifrig besuchte, beim Vortrag eines Liedes ungewollt auf sein eigentliches Talent aufmerksam machte: „,Mensch, du bist doch blöd, du musst Sänger werden!‘, sagten die alle; ,was du als Schauspieler verdienen kannst, ist doch nur ein Hungerlohn. Als Sänger kommst du an, mit deiner schönen Stimme!‘“
Durch ein Vorsingen beim jungen Fischer-Dieskau, den Hollweg nicht ohne Süffisanz ins Gespräch einführt („von dem ging schon damals das Gerücht, dass er bei sich zu Hause alle Fenster mit schwarzem Isolierband abdichtet, damit es nicht zieht!“), und dessen Begleiter Günther Weißenborn gelang es, ein Stipendium für einen Studienplatz an der Detmolder Musikhochschule zu ergattern, wo sich Hollweg die Aufnahme in die Klasse des schweizerischen Gesangspapstes Frederik Husler erkämpfte. Ihm folgte Hollweg noch als Meisterschüler an seinen Altersruhesitz ins Tessin, bis das Unterrichtsverhältnis zu einem abrupten Ende kam:
„Husler hatte eine neue Technik entwickelt, die uns alle überanstrengte – nach zehn Minuten Unterricht kam man immer heiser raus. Eines Tages sagte Huslers Assistentin: ,Wissen sie, dass ich mit ihnen eine Übung machen könnte, nach der sie ein paar Wochen nicht mehr singen können?‘. Das reichte mir. Ich packte meine Sachen, und mit mir gingen auch alle anderen Schüler bis auf einen.“
Ein Engagement in Gelsenkirchen brachte ihm dann die nötige Bühnenroutine und Partienkenntnis. Hollweg beendete es durch Vertragsbruch, nachdem man ihn mehrfach daran gehindert hatte, langfristig Konzertengagements des Dirigenten anzunehmen, der für seine Karriere überaus wichtig sein würde: Herbert von Karajan.
„Die Karajanerlebnisse lassen sich nicht von der Spitze vertreiben, sie sind einfach zu dicht. Man kann seine Musik kritisch betrachten, aber in dem Augenblick, in dem man ihm im Konzert gegenüberstand, war das alles weg. Er war so überzeugend, so zwingend in seinen Ausdrucksansprüchen ... Er hat mal zu mir gesagt: ,Ich habe über Jahre hinweg Musiker erzogen. Das will ich nicht mehr. Ich will jetzt Musiker haben, die mich begreifen, fast ohne dass ich etwas aussprechen muss.‘ Das gelang zwischen uns sehr gut.“
Nach vielen erfolgreichen Sängerjahren begann Hollweg Ermüdungserscheinungen zu verspüren – nicht stimmliche, wie er betont, aber musikalische: „Das Singen war irgendwie verschlissen, das ,Futter guckte durch den Ärmel‘; nach 180 ,Missae solemnes‘, um nur ein Beispiel zu nennen, ist das einfach nicht jedes Mal wieder ein überwältigendes Erlebnis.“
Hollweg wandte sich, einer alten Leidenschaft folgend, der Regie zu und reüssierte auch auf diesem Gebiet. Außerdem begann er verstärkt zu unterrichten: Am Salzburger Mozarteum hatte er schon seit Längerem einen Lehrauftrag innegehabt. Als er von einer Gesangsprofessur an der Freiburger Musikhochschule hörte, bewarb er sich – und wurde genommen. Von da an verlief sein Sängerleben in etwas ruhigeren Bahnen:
„Als junge Künstler sind wir doch immer irgendwelchen Vorbildern hinterhergejagt, haben sie zu erreichen versucht. Daran habe ich mich nach vielen Jahren des Singens dann erinnert, habe innegehalten und mich umgesehen: Wer kommt denn da eigentlich nach mir? Und da war eine Menge interessanter Leute dabei! So habe ich mich dann verstärkt der Ausbildung des Nachwuchses gewidmet.“
Lang schon ist das Aufnahmegerät ausgeschaltet, als Hollweg – trotz permanent deutlich zu spürender Beschwerden – voll spitzbübischem Humor von einer weiteren Leidenschaft in seinem Leben berichtet: den Frauen. Seine beiden Ehen hätten leider darunter gelitten, bedauert er, dass er sich einfach niemals entscheiden konnte, dass er das Weibliche als solches in immer neuer Gestalt erjagen und genießen wollte ... „Das hätten Sie jetzt gern auf dem Band gehabt, was!?“, grinst er am Ende des langen Gesprächs.
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Michael Wersin, 13.09.2014, RONDO Ausgabe 1 / 2007
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