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N° 1353
13. - 24.04.2024

nächste Aktualisierung
am 20.04.2024



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(c) Mark McNulty

Vasily Petrenko

Meister des Mersey-Sounds

Der Dirigent und sein Royal Liverpool Philharmonic Orchestra haben den vielgerühmten Zyklus sämtlicher Schostakowitsch-Sinfonien beendet.

Die wohl erschütterndste Sinfonie im Schaffen seines Landsmannes Dmitri Schostakowitsch hat er sich bis zum Schluss aufbewahrt. Obwohl auch die todestrunkene Nr. 14, von der ebenfalls in diesem Jahr eine Aufnahme veröffentlicht wurde, nicht unbedingt ein Zuckerschlecken für die Musiker und das Gemüt ist. Doch für Vasiliy Petrenko ist gerade Schostakowitschs Dreizehnte von einer brennenden Aktualität. Denn dem hier vom Komponisten und dem von ihm vertonten russischen Dichter Jewgenij Jewtuschenko schonungslos angeklagten Antisemitismus, wie er zu Sowjetzeiten von oberster Stelle propagiert wurde, begegnet Petrenko heute weiterhin in seiner alten Heimat. „Es kursieren in Russland diese typischen antisemitischen Klischees. Etwa dass die Juden den Finanzmarkt beherrschen würden. Und welcher Geist hier herrscht, kann man an Beiden über eine Million russischer Juden festmachen, die mittlerweile nach Israel ausgewandert sind.“
Mit der 1962 uraufgeführten Sinfonie Nr. 13 hat der 38-jährige Petrenko also nun seine Einspielung sämtlicher Sinfonien von Schostakowitsch beendet. Und wie bei den Aufnahmen zuvor hat er sein Royal Liverpool Philharmonic Orchestra erneut zu elektrisierenden Höchstleistungen angestachelt. Seit 2009 ist Petrenko Chefdirigent am Mersey. Und wenngleich das Orchester zu den ältesten auf der Insel zählt, spielt es erst seit dem Amtsantritt des bekennenden Fußballfans in der „Champions League“ der Klangkörper. Selbst manches Traditionsorchester aus der englischen Hauptstadt muss das inzwischen neidvoll zur Kenntnis nehmen.
Doch Petrenko konnte bereits 2006 erste Duftmarken als Erster Dirigent setzen und das leicht verschlafene Orchester der Beatles- Stadt auf Taktschlag reanimieren. „Die Musiker zeigten sich von Beginn an nicht nur neugierig, sondern waren extrem motiviert. Und wie überhaupt alle britischen Orchester arbeiteten sie direkt ungemein hart an sich.“ Petrenkos Entschluss, sich länger an das Orchester zu binden, hatte damals aber auch noch einen anderen Grund. Das musikalische Leben erschien ihm um einiges entspannter als jenes in Russland. Als Petrenko noch Chefdirigent des Orchesters der Staatsakademie St. Petersburg war, musste er sich regelmäßig mit einer Bürokratie herumschlagen, die ihn an die Sowjetunion erinnerte und die auch Schostakowitsch in seiner 13. Sinfonie aufs Korn genommen hat. „Wenn beispielsweise die Streicher neue Saiten benötigten, weil sie eben irgendwann verschleißen und reißen können, bekam ich tatsächlich zu hören: ‚Warum spielen die Musiker nicht einfach schneller?‘“
Mit solchen Absurditäten muss sich Petrenko, der in St. Petersburg vom Gergiev- und Bychkov- Lehrer Ilya Musin ausgebildet wurde, zum Glück nicht mehr befassen. Überhaupt hat der akribisch zu Werke gehende Blondschopf längst die Musikstadt Liverpool aufgemischt und dort erstmals das „Liverpool International Music Festival“ auf die Beine gestellt, zu dem Zehntausende kamen. Und in Zusammenarbeit mit der European Opera School kümmert er sich um das bislang eher brach liegende Opernleben. So standen bereits Wagners „Parsifal“ auf dem Spielplan wie die Mendelssohn-Rarität „Die Hochzeit des Camacho“.

Nie der Masse folgen

Mit der Musik von Schostakowitsch hat Vasily Petrenko schon deswegen eine quasi natürliche Verbindung, weil beide aus St. Petersburg stammen. Trotzdem ist er mit den Sinfonien nicht unbedingt aufgewachsen. „In meiner Geburtsstadt wurden sie eher unregelmäßig gespielt“, erinnert er sich. „Und sieht man einmal beispielsweise von der Fünften, Siebten oder Achten ab, die durchaus beliebt sind, werden viele der Sinfonien in Russland immer noch als ‚Neue Musik‘ abgetan. Dabei spiegeln doch die 15 Sinfonien unüberhörbar die Biografie eines großen Künstlers im 20. Jahrhundert wider.“ Zu dieser Biografie gehört Schostakowitschs intensive Beschäftigung mit den furchtbarsten Gräueltaten. So erinnerte er 1962 in seiner 13. Sinfonie an das Massaker, das 1941 die SS im ukrainischen Babij Jar an 34.000 Juden verübt hatte. Diese Sinfonie ist für Petrenko aber nicht nur musikalisches Mahnmal. Den mit „Eine Karriere“ bezeichneten fünften und letzten Satz liest er als eine Aufforderung, „nie der Masse zu folgen, sondern nur seinen eigenen Weg zu suchen.“ Dass dies jedoch nicht so einfach ist, musste gerade Schostakowitsch immer wieder erfahren.
Die Erfolgsstory des Wahl- Liverpoolers Petrenko hat mittlerweile auch international Wellen geschlagen. So ist er ebenfalls als Gastdirigent gefragt, der an der Pariser Oper, beim Glyndebourne Festival und der Los Angeles Philharmonic auftritt. Seit 2013 füllt er zudem in Oslo einen festen Zweitjob aus, dort leitet er mit den Philharmonikern ein Orchester, das bereits von seinem alten Mentor Mariss Jansons an die Spitze geführt worden ist. Doch wie in Liverpool begnügt er sich auch in Oslo nicht mit der üblichen Orchesterarbeit, sondern organisiert etwa Schulprojekte und Gesprächskonzerte. „Wir wollen jedes Konzert zu einem Event machen, zu etwas Einzigartigem, das man einfach nicht verpassen darf.“
Während Petrenko mit den Osloer Philharmonikern schon den Startschuss für einen Mahler-Zyklus gegeben hat, steht in Liverpool seit Anfang der Saison der 175. Geburtstag des Orchesters im Mittelpunkt. Mit der gerade veröffentlichten Aufnahme von Schostakowitschs 13. Sinfonie hat dieses englisch-russische Dreamteam längst genügend Argumente für weitere gemeinsame Spielzeiten geliefert.

Neu erschienen:

Dmitri Schostakowitsch

Sinfonie Nr. 13 „Babi Jar“

Alexander Vinogradov, Royal Liverpool Philharmonic Orchestra, Vasily Petrenko

Naxos

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Des Menschen Wolf

Die am 18. Dezember 1962 in Moskau uraufgeführte 13. Sinfonie ist Schostakowitschs erste mit einem Vokalpart (hier: ein Bass). In seinen Gedichten hatte Jewgenij Jewtuschenko eine schonungslose Geschichte der Judenverfolgung und des Antisemitismus geschrieben, die damit auch die Sowjetunion anklagte. Nachfolgeaufführungen erlaubte die Parteispitze daher nur mit den entsprechenden Textänderungen. Und im damaligen Bruderstaat DDR wurde die Dreizehnte erstmals erst 1973 aufgeführt. Schostakowitschs Botschaft lautete: „Das Verhalten des Menschen als Bürger in der Gesellschaft – das hat mich stets beschäftigt. In der 13. Sinfonie warf ich das Problem eben dieser bürgerlichen Moral auf.“

Guido Fischer, 22.11.2014, RONDO Ausgabe 6 / 2014



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