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N° 1354
20. - 26.04.2024

nächste Aktualisierung
am 27.04.2024



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Wenn die Musik fliegt ...

Leif Ove Andsnes

Der norwegische Pianist Leif Ove Andsnes hat etwas zu sagen – durch sein exzellentes Klavierspiel ohnehin. Aber auch beim morgendlichen Frühstücksgespräch mit RONDO-Autor Tom Persich in einem Berliner Hotel. Zu seinem Verhältnis zu Rachmaninow, zu den Gagen der Künstler in unserer Zeit und zu anderen Dingen der Kunst.

Ein cooler Typ. Selbst dann, wenn er Müsli isst. So jedenfalls der erste, flüchtige Eindruck. Aber der Eindruck ist, wie das Eindrücke oft an sich haben, falsch. Keine Minute braucht es, dann weiß man, dass dieser Mann, der so verdammt gut Klavier spielen kann, ohne auch nur eine Miene dabei zu verziehen, die typisch skandinavische Form der Empfindsamkeit verkörpert. Es ist eine Empfindsamkeit, die ohne Schaum auskommt, die stets danach sucht, zu den Wesenheiten der Dinge vorzustoßen.

RONDO: Geld spielt eine zunehmend wichtige Rolle im Klassik-Business. Zuweilen scheint es sogar, Künstler seien mehr an der Höhe der Gage interessiert als an der Kunstform Musik selbst. Wie stehen Sie dazu?

Leif Ove Andsnes: Ich mag diese zunehmende Gier überhaupt nicht. Besäße ich sie, müsste ich nur die großen Klavierkonzerte spielen. Aber das wäre doch schrecklich. Hier und da ist es okay. Aber nicht als einzige Beschäftigung. Wenn man das tun will, was einen wirklich interessiert, dann muss man eben auf die hohen Gagen verzichten. Ich habe zum Beispiel gerade vier Kammermusikkonzerte in der New Yorker Carnegie Hall organisiert. Das bringt nicht so viel Geld, aber es bringt einige Freunde in die Stadt und deswegen viel Spaß. Sowohl menschlich als auch künstlerisch. Kurz und gut: Ich glaube, man muss als Künstler die Balance finden – zwischen Geschäft und künstlerischem Willen.

RONDO: Wenn Sie auf einem hohen Niveau spielen, dann erwarten aber bestimmte Konzertveranstalter, dass Sie sich in einem bestimmten „finanziellen Distrikt“ aufhalten. Sprich: Wenn Sie weniger verlangen, denken diese Leute, Sie können weniger.

Andsnes: Für Sänger mag das gelten, für Pianisten nicht (lacht). Ich jedenfalls habe diese Erfahrung nicht gemacht. Und ich bleibe dabei: Die Art der Kammermusikprojekte, wie sie jetzt in New York stattfinden, oder wie sie von den Berliner Philharmonikern gemacht werden, mit der Einrichtung des „pianist in residence“, interessiert mich weit mehr.

RONDO: Apropos Berliner Philharmoniker: Ihre neue Aufnahme bringt uns zu den Klavierkonzerten von Rachmaninow. Ist es die erste Zusammenarbeit fürs Tonstudio mit Antonio Pappano und dem Orchester?

Andsnes: Ja. Wir haben jedoch das erste Klavierkonzert mit dem London Symphony Orchestra bereits öffentlich gespielt, vor einigen Monaten. Es war eine sehr intensive Erfahrung.

RONDO: Was ist besonders an Pappanos Sichtweise auf Rachmaninow?

Andsnes: Haben Sie seine Interpretation der zweiten Sinfonie in London gehört?

RONDO: Nein.

Andsnes: Sie hätten es hören sollen. Es war fantastisch. Und was die Klavierkonzerte angeht: Pappano ist nicht nur Dirigent, er ist auch ein sehr guter Pianist. Er kennt die Stücke aus dem Effeff.

RONDO: Ist es ein Vorteil für Sie, dass der Dirigent so viel weiß, auch über die technische Seite der Angelegenheit?

Andsnes: Es kann ein Vorteil sein. Muss es aber nicht. In unserem Fall denke ich, es ist ein Vorteil. Es schafft ein enges Zusammenspiel. Und was noch wichtiger ist: Pappano weiß um die Bedeutung der Rubati in den Klavierkonzerten. Als ich das erste Klavierkonzert mit ihm aufgeführt habe, war ich fasziniert von der Vielseitigkeit der ihm zur Verfügung stehenden Ausdrucksmittel. Die Gesangslinie, die er zog, war grandios. Nicht nur laut oder leise, nicht nur hart oder weich. Es war wirklich sehr espressiv, ohne kitschig zu wirken. Sehr intensiv. Das kreierte einen sehr reichen Klang. Und war sehr inspirierend.

"Rachmaninows Musik ist nicht melancholisch"

RONDO: Rachmaninow wird oft gespielt, als sei es Filmmusik. Ein Missverständnis, das vielleicht in der russischen Tradition begründet liegt, die das Emphatisch-Spätromantische in den Vordergrund stellt – sogar gegen die Intentionen des Komponisten Sergej Rachmaninow?

Andsnes: Die so genannte „russische Klavierschule“ – ich mag den Ausdruck wirklich nicht – hat sich sehr geändert in den letzten Jahrzehnten. Nach dem Ersten Weltkrieg war das Bild von Rachmaninow, glaube ich zumindest, ein sehr verfärbtes. Man dachte, Rachmaninow sei ein verzweifelter Mensch, der seine Verzweiflung in Tönen ausdrückte, und man dachte aus diesem Grund wohl, man müsse ihn pathetisch und hyperromantisch auslegen, um ihm gerecht zu werden. Was, wie wir heute längst wissen, nicht seinen Ideen entsprach. Der Geiger Nathan Milstein sagte mir einmal, Rachmaninow sei im Grunde ein sehr fröhlicher Mensch gewesen. Nicht immer natürlich, aber häufiger, als viele das annehmen.

RONDO: Nehmen wir aber die Entstehungsgeschichte des zweiten Klavierkonzertes, dann wissen wir auch, dass Rachmaninow sich damals in einer schweren Existenzkrise befand.

Andsnes: Natürlich, das stimmt. Und es war nicht die einzige. Aber dennoch glaube ich, dass es falsch wäre, in seinem Fall nostalgisch zu sein – als Hörer und als Interpret. Diese Musik ist ja nicht wirklich melancholisch. Sie ist, jedenfalls meines Erachtens, sogar in weiten Teilen optimistisch. Voll an Kraft. Ich kann darin keine Depression finden. Und wenn man hört, wie der phänomenale Pianist Sergej Rachmaninow Stücke des Komponisten Sergej Rachmaninow spielte, dann fühle ich mich in meiner Meinung bestätigt. Die Musik fliegt.

RONDO: Dennoch, brauchen wir unbedingt noch eine Aufnahme mit den Klavierkonzerten? Es gibt schon geschätzte 777 Einspielungen.

Andsnes: Ich weiß es nicht. Aber für mich war es seit Jahren ein großer Wunsch, diese Konzerte aufzunehmen. Und zwar alle. Sie zählen, neben den Klavierkonzerten Beethovens, meiner Ansicht nach zu dem Bedeutendsten, was es für Klavier und Orchester gibt. Mit zwei von den Konzerten beschäftige ich mich schon seit meiner Jugend. Die Faszination hat angehalten. Warum also sollte ich darauf verzichten, die 778. Aufnahme zu machen?

Neu erschienen:

Rachmaninow

Klavierkonzerte Nr. 1 und 2

Leif Ove Andsnes, Berliner Philharmoniker, Antonio Pappano

EMI

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Das Kammermusikfestival in Risør: Tönendes Möbellager

Es ist nicht ganz einfach, in das abgelegene Küstenstädtchen Risør an der Südspitze Norwegens zu gelangen. Dafür wird man nach dreieinhalbstündiger Fahrt von Oslo aus mit einem überwältigenden Naturerlebnis belohnt. Mächtige Felsen gruppieren sich hier zu malerischen Fjordlandschaften, die tief stehende Sonne des Nordens taucht alles in ein berückendes, glasklares Licht. Zur Sommerzeit erwartet den Besucher hier ein kleines, feines Kammermusikfestival, das Leif Ove Andsnes und der Bratscher Lars Anders Tomter vor 15 Jahren ins Leben gerufen haben. Eine Woche lang kommen hier befreundete Musiker zusammen, um in intensiver Probenarbeit, fernab vom institutionalisierten Konzertbetrieb, ein exquisites Kammermusikprogramm zu erarbeiten und aufzuführen. Wegen der Gage, die kaum der Rede wert ist, kommen die Künstler nicht hierher. Sie kommen allein der Musik zuliebe. Ein beinahe Bayreuther Arbeitsethos – kaum eine halbe Stunde von Risør entfernt strandete übrigens Richard Wagner auf der Flucht aus Riga, eine Szene, die er in seinem „Fliegenden Holländer“ verarbeitete. Hauptspielstätte in Risør ist ein 1647 erbautes barockes Holzkirchlein (o.). Hier herrscht drang volle Enge (u.), wenn beispielsweise Emanuel Ax zusammen mit dem aus Profis und Studenten bestehenden Festspielorchester Mozarts Klavierkonzert Es-Dur KV 482 zum Besten gibt. Bisweilen weicht man aber auch schon mal auf ehemalige Möbellager oder Werfthallen aus. Und wenn bei solchen Darbietungen naturgemäß auch nicht alles so perfekt und glatt poliert klingt, so atmen die Darbietungen doch Begeisterung, Ernsthaftigkeit und Enthusiasmus. Das Publikum weiß es zu schätzen. Gepflegte Langeweile gibt’s anderswo.

Tom Persich, 31.01.2015, RONDO Ausgabe 6 / 2005



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