Einer der längsten Alpträume der Menschheitsgeschichte war es, in den Svjatoslav Richter am 20. März 1915 fast unmittelbar hineingeboren wurde. Schon wenige Jahre später sollte es die kleine deutsche Welt in dem westukrainischen Städtchen, der sein Vater – ein begabter Pianist und Pädagoge – entstammte, ebenso wenig mehr geben wie die turgenjewhafte Landadelssphäre, aus der seine Mutter kam.
Die Spannungen, die eine Seele in dieser düsteren Unendlichkeit zwischen Revolution und dem Tode Stalins zu ertragen hatte, können wir uns kaum vorstellen, viele vernarbte Biografien lassen es zumindest erahnen. 1941 wurde sein Vater denunziert und erschossen, da studierte er schon in Moskau. 1952 empfing er den Stalin-Preis. In seinen von Bruno Monsaingeon aufgezeichneten Erinnerungen – einem der bewegendsten Musikbücher überhaupt! – schildert Richter diese Jahre in einer verstörenden Mischung aus mildem Spott und Melancholie. Er wich den zerstörenden Kräften mit der gespielten Narretei eines Hamlet aus, scheint es. Seine Kunst folgte anderen Gesetzen, ohne doch eine lichte Gegenwelt öffnen zu wollen.
Die unerhört aggressive Attacke des jungen Richter auf das Instrument ist noch auf den rauschendsten Bändern beeindruckend, aber auch verstörend. Da schreien schlecht gewartete Flügel, man hört Saiten reißen. Wer so spielt, will keinem Publikum gefallen. Das wurde dafür in eine geradezu fanatische Wahrheitssuche hineingerissen, die in den Tiefen eines Werkes Wesentliches aufspürte und herausriss, um es in Pranken zu halten wie einen glühenden Kern. Unbedeutendes verdampfte, und das konnte schon einmal ein ganzes Nocturne seines erklärten Lieblingskomponisten Chopin sein – und die russische Klaviertradition gleich mit. Die Spannung, unter die er sich und sein Klavierspiel gesetzt hatte, erreichte 1960 mit seinem Debüt in der Carnegie Hall ein Maß, das kein Musiker und kein Auditorium auf Dauer hätte ertragen können. So eröffnete ein unmerkliches Nachlassen sein goldenes Jahrzehnt, so fragwürdig die Vorstellung auch sein mag, diese eigenwillige Kunst lasse sich in ordentliche Stilphasen einfangen. Wer den Schumann dieser Jahre hört, die Fantasie op. 17 oder die Fantasiestücke, tritt in einen „traumeswirren“, überschwänglichen Kosmos ein, wie ihn nur einer schildern kann, der hinter den Noten die Abgründe und hinter den Masken die manischen Fratzen wirklich gesehen hat, mag er auch noch so oft behauptet haben, er spiele nur, was dastehe. Den äußersten Pol einer Ausdrucksintensität, die nicht mehr rasende Überspannung sucht, sondern die fernsten Winkel eisig-depressiver Räume, erreichte er mit der Aufnahme der letzten Schubertsonate. Für einen „normalen“ Künstler hätte es keine Rückkehr von diesem Ort gegeben (aber er wäre auch nicht so weit gelangt …). Richter aber trat noch fast ein Vierteljahrhundert lang auf, nur ein blasses Leselämpchen ließ die zusammengekrümmte Riesengestalt wahrnehmen, deren Klavierspiel sich allen Erwartungen und Beschreibungsversuchen entzog. Von dürrem Haydn-Blattspiel über kalte Explosionen Chopinscher Etüden bis zum hauchzarten Debussy-Pastell war alles möglich. Eine Freude war es selten, Größe aber hatte es. So trat er ab als ein Unfasslicher, an dem alle routinierten Jubiläumselogen abperlen werden. Eine Gestalt zu groß für unsere Zeit.
Universal
Warner Classics
Praga/harmonia mundi
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