Glenn Goulds erste Studioaufnahme der Goldberg-Variationen von Johann Sebastian Bach hat auch heute – nach fünfzig Jahren – nichts von ihrer Faszination und ihrer Bedeutung eingebüßt. War das damals schon absehbar, als Gould am 6. Juni 1955 erstmals die New Yorker Columbia- Studios in der 30. Straße betrat? Sicher, die beiden ersten USA-Recitals, die der 23-jährige Kanadier kaum fünf Monate zuvor in Washington und New York gegeben hatte, waren sensationell gewesen, und die Presse hatte sich vor Begeisterung überschlagen. Aber für David Oppenheim, den Leiter der Columbia Masterworks, wird die geradezu auratische Ausstrahlung Goulds wohl ebenso wichtig gewesen sein wie seine einzigartige Pianistik. Gould entsprach auf ideale Weise dem Zeitgeist: eine Mischung aus dem „Jimmy Porter“, den John Osborne 1956 in seinem Schauspiel „Look Back in Anger“ auf die Bühne brachte, und dem „Holden Caulfield“ aus Jerome Salingers 1951 erschienenem Erfolgsroman „The Catcher in the Rye“. Ein „junger Wilder“ der Musik. Ein „Marlon Brando des Klaviers“, wie The New Yorker schrieb. Ein „angry young man“ – einerseits ein unbequemer Störenfried und Aufrührer im etablierten Musikbetrieb, andererseits ein Künstler von „geradezu hypnotischer Ausstrahlung“, der in gleichem Maße das Zeug zum Idol hatte wie der 1955 tödlich verunglückte James Dean. Der Exklusivvertrag mit der Columbia, den Oppenheim Gould anbot (und der bis zu seinem Tode fortbestand), war das eine; das andere war die insistierende Pressekampagne, die Deborah Ishlon als Marketing- und PR-Managerin des Labels rund um Goulds Debüt veranstaltete – selbst auf die Gefahr hin, einzelne Kritiker eher abzuschrecken als zu überzeugen. Es war, wie Kevin Bazzana schreibt, „the most hyped recording debut by the most hyped young performer in classical-music history“. Dabei hatte die Columbia von Anfang an auf die Breitenwirkung jener Hochglanz-Magazine gesetzt, in denen klassische Musik sonst eher eine marginale Rolle spielte.
Man mag diese Art der Vermarktung durchaus kritisch sehen; aber sie wäre zweifellos ins Leere gelaufen, wenn Glenn Gould nicht eben – Glenn Gould gewesen wäre. Ein anderer, weniger genialer Künstler hätte bestenfalls ein Strohfeuer entfacht, statt jenes pianistischen „Flächenbrands“, der bis heute fortglüht.
Michael Stegemann
Sony
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