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N° 1354
20. - 29.04.2024

nächste Aktualisierung
am 27.04.2024



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Keith Jarrett

Hip oder Hype?

Zu Jarretts Sechzigstem bekennen wir: Ohne Keith Jarrett wäre manche Brücke nicht geschlagen, die Welt des Jazz wäre ärmer und gewiss auch kälter.

Es begab sich am 8. Mai 1945, dass Irma Jarrett in Allentown, Pennsylvania, mit ihrem Erstgeborenen niederkam, der auf den Namen Keith hören sollte, und dem Krieg ward ein Ende. Was für ein Anfang, doch leider entlarvt die Wirklichkeit die selbstgefällige Hipness einer solchen Darstellung als mystifizierenden Hype. Erst nach weiteren vier Monaten, nach Hiroshima und Nagasaki war der Krieg zu Ende. Dennoch, Hipness und Hype, Mystifizierung und Häme durchziehen die Wirkungsgeschichte Keith Jarretts; der intellektuelle, sich selbst reflektierende Künstler mit dem Sendungsbewusstsein der „Art Of Improvisation“ scheint sie geradezu zu provozieren.
Von Beginn an bestimmt Musik sein Leben. Auf eine Zeit als pianistisches Wunderkind folgt kurz ein Studium am Bostoner Berklee College, das den Überflieger alsbald relegiert. In New York spielt er bei Art Blakey, bis ihn der Schlagzeuger Jack DeJohnette an den Saxofonisten Charles Lloyd empfiehlt, der gerade jenes akustische Quartett zusammenstellt, das mit dem Gestus der totalen und doch sangbaren Improvisation das jazzmusikalische Pendant zum Hippie- Aufbruch formuliert. Als sich das Quartett 1969 auflöst, holt Miles Davis Keith Jarrett für zwei Jahre in seine mittlerweile elektrifizierte Band. Noch auf dem herrlich vielschichtigen Duo-Album „Ruta And Daitya“ mit Jack DeJohnette, einer ganz frühen Einspielung von Keith Jarrett, spielt der spätere Akustikpurist die E-Instrumente.
1971 realisiert er sein erstes Soloalbum. Schon zeichnet sich ab, was sich dann in seinen Konzerten ausführlich vollzieht: jene weit angelegten Improvisationsbögen, die sich aus kleinen Motiven entwickeln, sich magisch zu aufregenden Ketten verdichten, um sich zu leuchtend singenden Kantilenen zu sublimieren, die mit leichtfüßiger Rhythmik zum Tanzen und Flirren gebracht werden.
Das 1975 eingespielte „Köln Concert“ wird zur Apotheose dieser Form des Klaviervortrags, der alle Genregrenzen sprengt und der Jarrett zum authentischen Brückenbauer, zum Pontifex zwischen Klassik und Jazz macht. Diese Musik trifft genau den Geist der Zeit, in der sich die Hippie-Generation auf den Weg in die ästhetisierte Warengesellschaft begibt. Das „Köln Concert“ markiert einen Pradigmenwechsel für den Soloklaviervortrag, ja für die Jazzrezeption überhaupt. In seinem europäischen Quartett mit Jan Garbarek gelingt es Jarrett, den Gestus seiner Solokonzerte in eine eher Nummern-orientierte Ensemblemusik zu übertragen; gleichzeitig verfolgt er mit seinem amerikanischen Quartett die Impulse der Avantgarde der sechziger Jahre; Jarrett ist hier auch als expressiver Sopransaxofonist zu hören.
Mit den 1983 entstandenen Trio-Alben „Standards Vol.1 / Vol.2“ löst Jarrett erneut einen Paradigmenwechsel aus. Im Trio mit den kongenialen, gleichberechtigten Partnern Gary Peacock am Bass und Jack DeJohnette am Schlagzeug entwickelt Jarrett eine dichtestmögliche Form der ständig fließenden Kommunikation, die für ihren Diskurs die Klassiker des Great American Songbook neu entdeckt und an der fürderhin jegliche Form der Interpretation von Standards gemessen wird. Neben seiner intensiven Konzert- und Aufnahmetätigkeit schreibt Keith Jarrett Werke Neuer Musik und interpretiert Werke der abendländischen Klassik – und enttäuscht manchen Fan als analytischer Interpret, der sich bewusst den vitalistischen Angang versagt.
Die totale „Art Of Improvisation“ fordert ihren Preis. 1996 erkrankt Keith Jarrett am chronischen Erschöpfungssyndrom und kann über ein Jahr lang nicht mehr spielen. Mit eisernem Willen findet er schließlich den Weg zurück auf die Szene. Jetzt klingt er noch souveräner und gestattet sich Pausen, wo er früher reflexartig einem Spielzwang erlegen wäre. Die hämischen seiner Kritiker werden milder, ihre Analogien zu Weihrauch wabernden Sakralhandlungen selten. Die Einmaligkeit des Jarrett’schen Genius wird nunmehr gefeiert: Hipness bedarf des Hypes nicht.

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Thomas Fitterling, 28.03.2015, RONDO Ausgabe 3 / 2005



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