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„Mich verwirrt ein wenig der Umstand, dass meine letzte Symphonie, die soeben fertig geworden ist, besonders das Finale, von einer Stimmung durchdrungen ist, die derjenigen eines Requiems nahe kommt.“
Mit solchen Werk-Erläuterungen haben Komponisten ihren Interpreten das Leben schon immer leichter gemacht. Denn mit nur ein, zwei Andeutungen lässt sich scheinbar mit links der Code knacken, um sich authentisch auf Augen- und Ohrenhöhe mit dem musikalischen Kunstwerk und seinem schlummernden Seelenunheil zu bewegen. Peter Tschaikowsky hingegen hat sich postum mit seiner Redseligkeit keinen großen Gefallen getan, als er den Großfürsten Konstantin am 21. September 1893 über die frisch getrocknete Partitur seiner 6. Sinfonie informierte. Immerhin versuchen bis heute ganze Dirigentengenerationen, genau jenes Leidensprogramm zu assoziieren – das Autograph weist immerhin bereits im Juli 1893 die Bezeichnung „Pathétique“ auf, auch wenn Tschaikowskis Bruder Modest den Namen später als seine Erfindung ausgab. Dass Tschaikowski neun Tage nach der von ihm am 16. Oktober 1893 geleiteten und wenig erfolgreichen Uraufführung unter mysteriösen Umständen verstarb, passt da nur allzu gut zu den außermusikalischen Indizien. Seitdem erteilt sich somit nahezu jeder Dirigent die Lizenz zum Seufzen und Klagen, dürfen Batterien von Streichern dauerschluchzen, was die Bögen hergeben. Wobei sich gerade das berühmte, mit „zart, sehr singend, ausdrucksvoll“ bezeichnete Thema aus dem Eröffnungsatz zu einer gnadenlos tränendrüsigen Schmalz-Initiale entwickelt hat – bis hin zur Titelmelodie der TV-Familiensaga „Tadellöser & Wolff“. Erholung von soviel Pathos wäre da für die „Pathétique“ und den Endverbraucher durchaus angebracht.
Doch da kein Dirigent ins Grab steigen will, ohne sich jemals an diesem sinfonischen Evergreen mit seinem St. Petersburger Lokalkolorit und den virtuosen Pointen versucht zu haben, ist jedes Schallplatten-Jahr „Pathétique"-Jahr. Gleich vier Neueinspielungen von vier Edelmeistern belegen die ungebändigte Lust am Altbekannten. Mit unterschiedlichen Resultaten natürlich. Mariss Jansons hört die Zwischentöne genauso faszinierend heraus, wie er den großen, musikalischen Architekturbogen verfolgt. Und während sich der italienische Zuchtmeister Riccardo Muti in der Live-Aufnahme mit dem Orchestre National de France die gewohnt temperamentvolle Straffheit gönnt, ohne die geschmeidig rhythmische Strukturierung zu vernachlässigen, setzt Neemi Järvi ganz auf die orchestrale Sonderklasse seiner Göteborger Symphoniker. Da wird nichts verschleppt um der Gefühligkeit willen. Stattdessen folgt man gebannt den dynamischen Ballungen und Schichtungen im Kopfsatz, achten die Musiker darauf, dass der Geschwindmarsch nicht im Exzess und Donnernden die Orientierung verliert. Aus dem „Adagio Lamentoso“ verbannt Järvi alles Weinerliche zugunsten einer bis ins Detail heraushörbaren Dramatik.
Eine ähnliche Richtung hat auch Roger Norrington eingeschlagen, der im Konzertsaal das Radio-Sinfonieorchester Stuttgart des SWR leitet und mit ihm die von Evgeny Mrawinsky eingeläutete und maßstabsetzende Ent-Emotionalisierung Tschaikowskis fortsetzt. Selbstverständlich kann Norrington als Experte für die originale Partitur-Passform nicht umhin, hier und da mit einigen Trouvaillen zu überraschen. Wie die Blechbläser im „Allegro molto vivace“, die voller Bruckner-Saft stecken. Und auch der „Walzer“ bietet bei all seiner eleganten Grazie den kaleidoskopartigen Blick für die Hintergründigkeit der Instrumentation Tschaikowskis. Ein wenig wird Norrington so zum Geistesbruder von Sergiu Celibidache. Dessen Einspielung von 1992 mit den Münchner Philharmonikern gehört neben der von Leonard Bernstein nicht nur zu den längsten der 6. Symphonie. Wie es bei Celibidache an der Tagesordnung war, seziert und analysiert er diese „Pathétique“ bis aufs Fundament – was bisweilen mehr zu einer Lehrstunde als zu einem Ereignis wurde.
Ganz anders bei Bernstein und den New Yorker Philharmonikern! Gerade in den langsamen Ecksätzen, in denen er sich gegenüber fast allen Kollegen bis zu sieben Minuten mehr Spielzeit herausnimmt, betont Bernstein die erzählerischen wie visionären Seiten Tschaikowskis und erstarrt nirgendwo im weltumarmenden Gebet. Im Eingangs-Adagio fliegen plötzlich Blechblassplitter durcheinander, als wäre Strawinsky ein Ziehsohn seines Landsmannes. Im Finale, das Bernstein mit all seiner Mahler-Erfahrung auskostet, glaubt man beinahe düsteren Adagietto- Wolken zu folgen. Das aber eigentlich Faszinierendste an dieser Aufnahme ist: von einem Requiem ist sie meilenweit entfernt.
DG/Universal
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Hänssler/Naxos
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Sony
Naive/harmonia mundi
Naxos
Guido Fischer, 25.04.2015, RONDO Ausgabe 1 / 2005
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