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N° 1353
13. - 23.04.2024

nächste Aktualisierung
am 20.04.2024



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(c) Peter Meisel

Simon Rattle

„Wagner ist wie Spaghetti-Sauce“

In Berlin sprach der englische Dirigent mit RONDO über sein spätes Wagner-CD-Debüt – und seinen Berliner Nachfolger Kirill Petrenko.

RONDO: Sir Simon, überraschenderweise ist das „Rheingold“ Ihre erste Wagner-Oper auf CD überhaupt. Ist die Branche in derart schlechtem Zustand, oder waren Sie früher nicht interessiert?

Sir Simon Rattle: Das „Rheingold“ war ein Unfall – wenn auch ein glücklicher! Denn es war eigentlich überhaupt keine Aufnahme geplant. Es wurden zwei Aufführungen und eine Generalprobe mitgeschnitten. Und da das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks so vorzüglich Wagner spielt – kein Wunder, denn sie hatten auch schon „Tristan und Isolde“ mit Leonard Bernstein und den „Ring“ unter Bernard Haitink aufgenommen –, hat mich das Ergebnis absolut begeistert. Wir haben uns dann nachträglich entschlossen, den Mitschnitt herauszubringen.

RONDO: Wird ein kompletter „Ring des Nibelungen“ daraus?

Rattle: Im Augenblick denken wir über die „Walküre“ nach. Man braucht eine Traumbesetzung, so wie wir sie beim „Rheingold“ mit Michael Volle als Wotan hatten, der die Rolle mit einer Intelligenz und einem Humor versieht, wie man es sonst schwer findet. „Rheingold“ ist überhaupt ein perfektes Stück für mich. Denn ich betrachte es als Kammerspiel.

RONDO: Man hat oft gesagt, dass Wagner etwas für ältere Männer ist. Sie sind jetzt über 60 …!

Rattle: Ja, aber bei mir hängt es eher damit zusammen, dass man in Großbritannien nicht unbedingt mit Wagner aufwächst. Zwar habe ich mich in ihn verliebt, als ich noch ein Teenager war. Ich habe seine Opern aber immer nur aktweise dirigiert. Jetzt erst finde ich den Mut, die Orchester so zu drosseln und die Sänger so zu animieren, dass es zu der vom Komponisten vorgeschriebenen Dynamik passt. Es ist nicht alles laut bei Wagner! Außerdem: Ich liebe es zu kochen. Und mit Wagner ist es so ähnlich wie mit Spaghetti-Sauce. Je länger man sie im Kühlschrank aufbewahrt, desto besser wird sie.

RONDO: Ein richtiger Wagnerianer sind Sie wohl nicht?!

Rattle: Haha! (Überlegt.) Naja, nicht alles von Wagner spricht mich gleichermaßen an. „Tannhäuser“ finde ich schon ein sehr interessantes Stück. „Lohengrin“ dagegen kriege ich einfach nicht in Gang. Ich finde ihn nicht sonderlich attraktiv. Vor allem fehlt mir der richtige Schlüssel dafür. Allerdings, wer bin ich, mich darüber zu wundern?! Sie sprechen hier mit einem Menschen, der 58 Jahre alt wurde, bis er seine erste Puccini-Oper dirigiert hat …

RONDO: Warum haben Sie das „Rheingold“ nicht in Berlin aufgenommen?

Rattle: Die Berliner Philharmoniker wären, glaube ich, glücklich darüber, eine Rundfunkanstalt zu finden, mit der man ein solches Projekt finanzieren kann. Leider ist es nicht so einfach.

RONDO: In Deutschland ist Wagner immer noch die wichtigste Musik-Sache von allen. Können Sie das als Brite nachvollziehen?

Rattle: Ich verstehe, wo Wagner in der Psyche der Deutschen sitzt. Und ich verstehe noch viel besser, warum er für alle Orchester von so großer Bedeutung ist. Das genügt mir. Übrigens muss ich sagen: Es gibt nichts Schlimmeres als britische Wagner-Fans! Man muss nicht nach Deutschland gehen, um sich über die Wirkungen Wagners zu wundern.

RONDO: Gibt es in Großbritannien nichts Vergleichbares?

Rattle: Jedenfalls nichts mit einem derartigen Hysterie-Faktor. Wir Briten haben dort, wo die Deutschen ihren Wagner haben, einen musikalischen Minderwertigkeitskomplex ausgebildet. Etliche musikalische Epochen haben wir ganz ausgelassen. Dafür halten wir Händel für den größten britischen Komponisten. Auch nicht schlecht, oder?

RONDO: Als Sie im März dieses Jahres gebeten wurden, zu den sechs wahrscheinlichsten Nachfolgern bei den Berliner Philharmonikern etwas zu sagen, stand Kirill Petrenko nicht einmal auf der Liste. Waren Sie tatsächlich so überrascht?

Rattle: Nein, nicht wirklich. Und zwar deswegen, weil ich wusste, wie sehr Kirill Petrenko seit seinem ersten Gastspiel das Orchester beeindruckt hatte – und wie sehr sie ihn mochten. Es war offenbar Liebe auf den ersten Blick. Petrenko, nicht unwichtig, ist ein exzellenter Prober. Und ein fantastischer Musiker. Ich glaube, da hat das Orchester eine zukunftsweisende, absolut richtige Entscheidung getroffen. Petrenko, keine Frage, ist ein ganz großer Dirigent.

RONDO: Ich treffe neuerdings oft Musiker, die sagen: „Na, hoffentlich werden die Berliner Philharmoniker ihren Petrenko nicht bei lebendigem Leibe verzehren.“ Was raten Sie ihm?

Rattle: Also, ich glaube, dass jedes Orchester erst lernen muss, mit einer sensiblen Persönlichkeit wie Petrenko umzugehen. Nur: Genau dieser Aspekt ist ein entscheidender Faktor seines Erfolgs. Petrenko wird wissen, worauf er sich eingelassen hat. „Not an easy Job!“ steht bei den Berliner Philharmonikern schon draußen auf der Packung! Das kann der härteste Job sein, aber er kann ebenso für das größte Glück sorgen. Ich könnte Petrenko vielleicht einen Rat geben. Aber wissen Sie, den sollte ich ihm doch lieber persönlich geben. Bei einem Glas Wein. Da weiß ich allerdings schon genau, was ich ihm sage.

Neu erschienen:

Richard Wagner

Das Rheingold

Simon Rattle, Elisabeth Kulman, Michael Volle, Annette Dasch, Baechle, Benjamin Bruns, Tomasz Konieczny, Peter Rose, Herwig Pecoraro, Symphonieorchester des BR

BR Klassik/Naxos

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Kammerspiel mit großen Stimmen

Das „Rheingold“ sei „ein Kammerspiel“, sagt Rattle (siehe Interview). Trotzdem favorisiert der Dirigent die heute üblichen ‚großen‘, eher ausladenden Wagner-Stimmen. Michael Volle mag der kernig-eloquenteste Wotan der Gegenwart und Elisabeth Kulman eine sonor-unbrustige Fricka sein: Massive Stimmen bleiben es. In Burkhard Ulrich als Loge setzt Rattle auf seinen ehemaligen Mime (im „Siegried“ von Aix-en-Provence). Tomasz Konieczny ist ein aggressiv toniger Alberich, Annette Dasch klingt als Freia nicht übermäßig ausgeglichen. Janina Baechle gibt die Erda als Wagner-Orgel. Es ist eine prominente, nicht die kammermusikalischste Besetzung.

Robert Fraunholzer, 17.10.2015, RONDO Ausgabe 5 / 2015



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