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N° 1354
20. - 26.04.2024

nächste Aktualisierung
am 27.04.2024



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Musikstadt

Buenos Aires

Das Paris der Südhalbkugel nannte man einst die Hauptstadt Argentiniens. Und das Teatro Colón war einmal die Scala Südamerikas.

Buenos Aires, Teatro Colón, sechster Rang. Der Olymp. Klein, sehr klein sind sie, die Berliner Philharmoniker, von oben gesehen, aus dem südamerikanischen Musikhimmel. Doch in der wunderbaren Akustik dieses riesig rotplüschigen Logenrundes klingen sie kristallin und ganz nah. Man probiert noch einmal den letzten Satz von Gustav Mahlers neunter Sinfonie. Mittelleise, doch mit nachdrücklichem Akzent setzen die Celli mit ihrer elegisch dahinfließenden d-Moll-Hauptmelodie ein. Ein choralhaftes Kreiseln, sich in die Höhe schwingen. Scheinbar ohne Ende und Anfang. Töne, die sich nach Erlösung verzehren und letztlich in einem resignativen, dabei leuchtend klaren Nichts enden. Erloschen, verflüchtigt und doch nachhallend. Ein Hauch vom Jenseits. Ein Ende der Musik? Eher eine Reise, die in eine Katharsis mündet. Und – irgendwo, irgendwann – einen Neunanfang vorsieht.
Schnitt. Und sie tanzen einen Tango, Jorge Mario Bergoglio und Carlos Gardel. Hat man es sich so vorzustellen? Der junge argentinische Chemietechniker Jorge Mario Bergoglio gibt sich der von allen geteilten Sucht seines Landes hin, der „Musik, die aus meinem Innersten kommt“ und die angeblich in den bunten Blechhütten- Bordellen des Hafenviertels La Boca von Buenos Aires erfunden wurde? Lieber tanzte er die lustigere, elegantere Milonga. Bergoglio, der heutige Papst Franziskus, mag die klassischen Sänger mit den flötenden Stimmen, wie den schmalzig-verführerischen, 1935 mit dem Flugzeug abgestürzten und längst zum Tango-Heiligen verklärten Carlos Gardel.
Er muss natürlich auch die rassige Ada Falcón gern hören, die später Nonne wurde. Und den Papst des Nuevo Tango, Astor Piazzolla. Der Sängerin Azucena Maizani erteilte Franziskus sogar die letzte Ölung. Besonders dankbar sein müsste der Papst aber dem Tänzer Casimiro Aín. Sein Vorgänger, Pius X., hatte nämlich 1900 den Tango als sündhaft bezeichnet und den Gläubigen verboten. Aín reiste nach Europa und schaffte es, mit einer Botschaftssekretärin vor dem Heiligen Stuhl zu tanzen und den Papst zur Rücknahme des Dekrets zu bewegen. Was für ein Glück für Jorge Mario Bergoglio!
Das sind sie, die – mindestens – zwei Musikgesichter einer Weltmetropole am anderen Ende des Globus, in der beispielsweise auch die Weltklassepianisten Martha Argerich und Daniel Barenboim geboren wurden, gemeinsam unter dem Klavier der Eltern spielten. Buenos Aires. Klein-Paris, von den Nachfahren italienischer Einwanderer bevölkert, die Stadt, wo die Präsidentengattin Eva „Evita“ Péron vom Balkon ihrer Residenz, der Casa Rosada an der Plaza Mayor, herab zu den Arbeitermassen sprach und nicht wollte, dass Argentinien um sie weine, so die Musical- Legende. Da war ihr Körper schon vom Krebs zerfressen, heute liegt sie – nach einer Irrfahrt als Leiche – auf dem so eindrücklichen wie gruseligen Cementerio La Recoleta hinter einer Betonplatte in der Gruft.
Als Madonna sie im Film spielte, musste freilich in Budapest gedreht werden, so groß war in Buenos Aires die Aversion gegen den Popstar, der sich an der Nationalheiligen zu vergreifen wagte. Doch heimlich übte diese den Tango vorort, beispielsweise nicht weit weg vom Teatro Colón, in der vergilbten Confiteria Ideal, wo man unten Süßspeisen im Belle-Époque-Ambiente zu sich nimmt und oben nach täglichem Unterricht selbst dem Engtanz frönt.

Buenos Aires ist ambivalent, wie so viele Orte in Südamerika

Elegant und verrottet ist diese einstige und irgendwie: Immer-Noch-Weltstadt, nostalgisch, aber in den Neubauvierteln auch mit trotzigen Gesten aus Beton, Stahl und Glas sich der Zukunft entgegenstreckend. Ambivalent wie so viele Ort in Südamerika. Doch dieser hier ist vielleicht der Europäischste des riesigen Subkontinents, bei allem Temperament und der sublimen Exotik der von der weit entfernten Pampa hereinwehenden Gaucho-Romantik, die vor allem in den vielen Restaurants in Form von Asado (Steak) und Chorizo (Wurst) serviert wird (merke: Als Vegetarier ist man hier verloren).
Buenos Aires wurde benannt nach der Heiligen Santa María del Buen Ayre, spanisch für Heilige Maria der Guten Luft. Die offiziell nur 202 Quadratkilometer große Stadt bildet den Kern einer der größten Metropolregionen Südamerikas, dem Gran Buenos Aires, mit etwa 13 Millionen Einwohnern. Auf der anderen Seite des riesigen Mündungstrichters des Rio de la Plata liegt Montevideo, die Hauptstadt Uruguays. Und direkt an der 14-spurigen Avenida 9 de Julio, mit 140 Metern Breite lange einer der größten Straßen der Welt, liegt das 1908 mit Verdis „Aida“ eröffnete Teatro Colón. Es hat 2500 Sitz- und 1000 Stehplätze. Nach langen Renovierungsjahren eröffnete es neuerlich 2010, zur 200-Jahr-Feier der argentinischen Unabhängigkeitsbewegung. Mag es auch mit seinem edlen Golddekor prunken, seine größte Zeit, als hier von Caruso bis Callas, von Kollo bis Waltraud Meier alle berühmten Sänger gastierten, ist vorbei.
Pietro Mascagnis „Isabeau“ wurde hier 1911 uraufgeführt, Ottorino Respighis „Maria Egiziaca“ folgte 1933, Alberto Ginasteras „Don Rodrigo“ 1964. In den Fünfzigerjahren korrepetierte Michael, der Sohn des hierher emigrierten jüdischen Spielleiters Joseph Gielen, die Callas in „Norma“, Erich Kleiber und Karl Böhm dirigierten hier. Heute lässt die Ökonomie solche Extravaganzen nicht mehr zu. Und alle anderen schönen Pläne, beispielsweise ein „Ring des Nibelungen“ von Wagner-Enkelin Katharina, versinken meist im Sumpf von Korruption und Misswirtschaft der gegen jedes Können meist von befreundeten Politikern auf den Direktorensessel gehievten Verantwortlichen. Auch als Daniel Barenboim triumphal mit seiner Berliner Staatskapelle die Wiedereröffnung feiern wollte, musste er das in einem umgebauten Kino mit schlechter Akustik tun.
Im größten, schönsten und am besten klingendsten Opernhaus Südamerikas, einst einer glänzenden Adresse auf der weltweiten Opernlandkarte, geben sich heute, abgesehen von einigen hispanischen Stars, weitgehend die No-Names aus den tieferen Etagen des Betriebs die Klinke in die Hand. Oftmals werden die Löhne und Gagen nicht bezahlt, Produktionen werden nicht selten auch ganz abgesagt, etwa wenn mal wieder der Direktor wechselt. Trotzdem verfügt das chaotische Haus über zwei A-Orchester, die Orquesta estable als Opernorchester und die 1946 gegründete Orquesta Filarmónica de Buenos Aires als Philharmonischem Klangkörper. Daneben wird sogar noch die Orquesta academica als Nachwuchsorchester unterhalten. Neben einer der größten und einst bedeutendsten Balletttruppen verfügt das Haus über Chor, Kinderchor, ein großes Sängerensemble und sogar über eigene Ausbildungseinrichtungen: eine monströse, aber ineffektive Stadt in der Stadt.
Doch das ist vergessen, wenn man nachts etwa das atmosphärische Stadtviertel Palermo erkundet, wo einst Jorge Borges und Che Guevara lebten. Von irgendwo ertönt hier immer Musik: Pop, Tango, Opernarien. Und es scheint so, als summe diese nach wie vor faszinierende Stadt müde, doch leidenschaftlich mit.

Ein Abend im Teatro Colón

Aktuell ist für den Februar (in Argentinien, wie auf der ganzen Südhalbkugel, der Sommer) ein zeitgenössisches Musikfestival angekündigt, mit den Opern „Mahagonny- Songspiel“ von Kurt Weill und Bert Brecht sowie Strawinskis „Geschichte vom Soldaten“. Gut in das Plüschambiente passt auch eine Konzertaufführung der kitschigen „Primadonna“-Opernfantasie des Popbarden Rufus Wainwright. Man wagt sich sogar an die (vom Goethe-Institut mitfinanzierte) Heiner-Goebbels-Installation „Stifters Dinge“. Ab März gibt es dann – zumindest angekündigt – Ginasteras „Beatrice Cenci“, „Don Giovanni“ mit Erwin Schrott, Sasha Waltz mit ihrer tourenden „Dido & Aeneas“- Produktion, eine „Tosca“ mit Eva-Maria Westbroeck, Marcelo Álvarez und Carlos Álvarez, die lateinamerikanische Erstaufführung von Zimmermanns „Soldaten“, ein Dallapiccola- Doppelabend und Verdis „Macbeth“.

www.teatrocolon.org.ar

Matthias Siehler, 05.03.2016, RONDO Ausgabe 1 / 2016



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