home

N° 1354
20. - 26.04.2024

nächste Aktualisierung
am 27.04.2024



Startseite · Interview · Gefragt

(c) Aleksandra Kawka/Sony

Lubomir Melnyk

Kung fu-Meister des Klaviers

Dieser Pianist ist ein wunderlicher Heiliger, ein Prophet harmonischer Klavierkünste – und bricht alle Rekorde im Schnellspielen.

Ist der Mann noch ganz dicht? „Die Zeit der Bescheidenheit ist um!“, stößt Lubomir Melnyk hervor und muss dabei nicht lachen. „Meine Musik ist so virtuos, dass nur ich sie spielen kann“, sagt er. Denn: „Ich spiele mit Überschallgeschwindigkeit. Die anderen sind zu langsam!“ Eine einzigartige Klaviertechnik hat der Mann, wie er selber meint. Wer die knubbeligen Finger des 67-Jährigen sieht, der im Übrigen wenig Sportlichkeit verströmt, kann sich über dies Selbstbewusstsein nur wundern. Melnyk ist der neueste, seltsamste Heilige an der Tonalen-Front.
Nicht nur der Schnellste nämlich; der Schönste auch. Melnyk gehört den Beauty- Salonisten an, nach Art von Einaudi, Gorecki oder Silvestrov. „Wer ist dieser Silvestrov?“, fragt Melnyk arglos beim Gespräch in Berlin. „Alle reden von ihm.“ Das könnte sich nur zu bald ändern. Melnyk selber, ein Mann des esoterischen Schönklangs und von ausgesprochenem Sehertum, soll – mit der mächtigen Sony im Hintergrund – die Szene der Neotonalen aufmischen.
Ganz unbekannt ist Melnyk längst nicht mehr. Seine zwanzig (!), bei einem Londoner Independant-Label erschienenen CDs wurden bislang nicht unter „Klassik“, sondern unter „Pop/Rock“ einsortiert. „Was?! Sind die verrückt geworden?“, wundert ich Melnyk. „Nur weil es schön klingt …“ In der Tat! Die Musik Melnyks, klassischen Schemata folgend, zeigt bei der Ratlosigkeit, die sie provoziert, wie dogmatisch es immer noch in der Branche zugeht. „Ich bin total klassisch“, sagt Melnyk – und hat Recht.
Geboren 1948 in einem Münchner Flüchtlingslager, wohin seine Eltern vor der Roten Armee aus der Ukraine geflohen waren, gelangte Melnyk mit zwei Jahren nach Kanada. Bis 1969 lebte er in Winnipeg. Vor allem interessierte er sich für Philosophie. Von 1973 bis 1975 arbeitete er als Pianist in Paris. Die 120 Werke, die er seitdem komponierte, rechnet er selber stilistisch der Heimat seiner Eltern zu: „Meine Musik ist ukrainisch! Es gibt ein konstantes slawisches Element darin“, meint er. Heute lebt er, weil er Ruhe und Einsamkeit braucht, in Schweden.
„All meine Musik ist: Adagio“, so Melnyk. Paradox genug, denn zu den superschnellen Läufen seiner Linken will diese Charakteristik nicht recht passen. Melnyk spielt am liebsten mit niedergedrücktem Pedal. Die verhallenden Rotationsrhythmen leugnen eine Verwandtschaft mit dem amerikanischen Minimalismus nicht. Die hypnotische Sogkraft von Stücken wie „Sunset“, „Cloud Nr. 81“ oder des titelgebenden „illirion“ seiner neuen CD haben einen metaphysischen Grund.
„Ich bin multireligiös“, bekennt Melnyk. Will sagen: Er glaubt daran, das Klavier könne „Fenster zum Transzendenten“ öffnen. „Ich bin ein Mönch, ein Guru und ein Kung fu-Meister des Klaviers.“ Ein bisschen Schwadroneur und Angeber vielleicht auch? Er sei unter Armut und Entbehrungen groß geworden, erzählt er. Habe Paris als Hungerkünstler erlebt. Seine „continuous music“ verleugnet die Erinnerung an Wagners „unendliche Melodie“ nicht. Doch wo Wagner ein Verführer, ein Narkotiker und ein Pragmatiker war, spielt sich Melnyk ganz auf den wunderlichen Propheten ein. „Ich bin nicht würdig, Wagner die Schuhe zu putzen“, meint er ernsthaft. Selbstironie immerhin ist ihm nicht fremd. Er ist – der Arvo Pärt des Klaviers.

Neu erschienen:

Lubomir Melnyk

illirion

Lubomir Melnyk

Sony

Als JPC- und Amazon-Partner verdienen wir an qualifizierten Verkäufen.

Externer Inhalt - Spotify

An dieser Stelle finden Sie Inhalte eines Drittanbieters, die Sie mit einem Klick anzeigen lassen können.

Mit dem Laden des Audioplayers können personenbezogene Daten an den Dienst Spotify übermittelt werden. Mehr Informationen finden Sie in unseren Datenschutzbestimmungen.

Robert Fraunholzer, 04.06.2016, RONDO Ausgabe 3 / 2016



Kommentare

Kommentar posten

Für diesen Artikel gibt es noch keine Kommentare.


Das könnte Sie auch interessieren

Pasticcio

Auf dem Instrumententhron

Manchmal gehen selbst Musikjahre nahezu ungehört ins Land, die durchaus eine größere Resonanz […]
zum Artikel

Pasticcio

Intendanten von morgen

Meldungen und Meinungen der Musikwelt

Auf der Seite des „Deutschen Musikinformationszentrums“ erfährt man haarklein in Zahlen und […]
zum Artikel

Pasticcio

Jetsetter

Meldungen und Meinungen der Musikwelt

Und auch in den nächsten Jahren wird Andris Nelsons reichlich Flugkilometer abreißen. Denn gerade […]
zum Artikel


CD zum Sonntag

Ihre Wochenempfehlung der RONDO-Redaktion

Externer Inhalt - Spotify

An dieser Stelle finden Sie Inhalte eines Drittanbieters, die Sie mit einem Klick anzeigen lassen können.

Mit dem Laden des Audioplayers können personenbezogene Daten an den Dienst Spotify übermittelt werden. Mehr Informationen finden Sie in unseren Datenschutzbestimmungen.

Der Komponist Giacomo Orefice (1865–1922) wuchs in einer jüdischen Familie im norditalienischen Vicenza auf und ist vor allem für sein Opernschaffen bekannt. Auch als Pädagoge macht er sich einen Namen, sein berühmtester Schüler war der Filmkomponist Nino Rota. Orefices bekanntestes Musiktheaterwerk ist „Chopin“, für das er die Klavierwerke des polnischen Komponisten orchestrierte. Seine eigene Klaviermusik umfasst überwiegend romantische Charakterstücke, die von Gedichten, […] mehr


Abo

Top