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N° 1353
13. - 24.04.2024

nächste Aktualisierung
am 20.04.2024



Startseite · Interview · Blind gehört

(c) Matthias Baus/Gürzenich Orchester

Blind gehört – François-Xavier Roth

„Man braucht nur eine gute Brille“

François-Xavier Roth, geboren 1971 in Neuilly-sur-Seine, ist seit September 2015 Generalmusikdirektor der Oper Köln. Zuvor leitete er das Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg. Im Jahr 2003 gründete der Sohn des Komponisten und Organisten Daniel Roth sein eigenes Orchester „Les siècles“ – ein Ensemble, dessen Besonderheit darin besteht, sowohl Alte wie neuste Musik (vom 17. bis 21. Jahrhundert) aufzuführen: als ‚Spezialensemble für alles’. Für seine Aufnahme von „Le sacre du printemps“ und „Petrouchka“ erhielt Roth 2015 den Jahrespreis der Deutschen Schallplattenkritik.

Strawinskis „Sacre du printemps“, eine alte Aufnahme. Man hört es an den Farben der Holzbläser, die von Musikern früherer Generationen anders gespielt wurden. Ähnlich bei den Oboen und Fagotten, die eine sozusagen ‚grünere’ Farbe hatten. Viel interessanter als heute, wenn Sie mich fragen! Was wir hier hören, könnte ein französisches Orchester sein. Aber viele Musiker in den 30er und 40er Jahren sind ja auch emigriert. Also tippe ich eher auf Pierre Monteux, mit seinem riesigen Dirigentenstab, in Boston. Boulez hat mir erzählt, er hätte Monteux in Amsterdam einmal ohne Stock erlebt. Um hinzuzufügen: „Aber Sie werden sehen, Sie brauchen ihn!“ Ich habe die von Monteux eingerichteten Partituren studiert. Da gibt es Einzeichnungen, die direkt darauf abzielen, wie man die nötige Balance findet. Lauter die einen, leiser die anderen. Ich glaube wirklich, dass man bei Monteux in Boston damals französischer spielte als in Paris.

Igor Strawinski

Le sacre du printemps, 1. Satz

Boston Symphony Orchestra, Pierre Monteux (1951)

RCA/Sony

Das Werk ist mir unbekannt. Wahrscheinich ein Opern-Vorspiel von Berlioz. Aber welches ?! Was, „Le francs-juges“ ist das?! Das habe ich doch schon dirigiert. Ist allerdings lange her, bei der BBC. Hier klingt es nicht ganz so gut. (Lacht.) Fast so, als stamme es von Auber oder von Méhul. Zu flach. Bei Berlioz scheint mir wichtig, die Kontraste nicht zu vernachlässigen, und die sind mir hier ein wenig zu blass. Es handelt sich nicht um ein französisches Orchester, glaube ich. Ist das vielleicht der Dirigent, der zurzeit in meinem Hotel wohnt?! – Trotzdem überraschend! Denn manchmal sind Norringtons Interpretationen schwungvoll, hier aber etwas zu unentschieden, zumindest anfangs. Ah, jetzt ist er in Gang gekommen. Was den Vibratoverzicht betrifft, so bin ich nicht so radikal wie er. Ich will von jedem Orchester, das ich dirigiere, die Klangkultur aufnehmen, die schon da ist. Wenn man bei einem Orchester das Vibrato streicht, kann es zuweilen recht arm klingen.

Hector Berlioz

Ouvertüre zu „Les francs-juges“

Radio-Sinfonieorchester Stuttgart des SWR, Roger Norrington (2003)

SWR Music/Naxos

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Schöne, langsame Musik. Es ist es- Moll. Aber der Komponist zeigt, dass wir uns historisch am Ende der Tonalität befinden. Ein Moderner, der sogar über ein modernes, organisiertes Pathos verfügt. Jetzt hört man, dass es vielleicht Pierre Boulez sein könnte: am Gleichgewicht zwischen Drama und Ausdruck einerseits und an der großen, sehr schön zum Ausdruck gebrachten Noblesse. Auch Distanz. Das mag manche Leute stören, weil sie erwarten, dass uns bei Mahler das Herz übergehen muss. So ähnlich wie hier macht es Boulez auch bei Bruckners Achter: Er baut ein Gebäude, bei dem man alles versteht, weil alles stabil aufeinander aufgebaut ist – ohne das Ego, das Überego, zu hören. Eine gesunde Distanz. Boulez war eben einfach ein großer Dirigent.

Gustav Mahler

Sinfonie Nr. 8, Anfang des 2. Teils

Staatskapelle Berlin, Pierre Boulez (2006)

DG/Universal

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Das ist der berühmte Anfang von Beethovens Erster. Alte Instrumente? Nein, sie spielen zu hoch dafür. Aber es gefällt mir gut, sehr gut sogar. Freilich, diese Stelle da ist in der Partitur viel bewegter. Da muss mehr Aktivität zu spüren sein ... Zu schüchtern! Und beim Übergang zum Allegro ist es etwas zu schnell. Was, das ist John Eliot Gardiner?! Oh, da bin ich jetzt doch enttäuscht. Gardiner ist ein Dirigent, den ich besonders für seinen Beethoven immer sehr bewundert habe. Ich denke, heute würde er das nicht mehr so machen. Es klingt zu anekdotisch. Mir hat Gardiner, als ich sein Assistent war, einmal direkt gesagt, die ersten Beethoven-Sinfonien seien wie ein Elektroschock. Aber die Aufnahme stammt aus einer Zeit, in der Dirigenten zeigen wollten, wie schön historische Instrumente klingen können. Trotzdem war Gardiner sehr wichtig für mich. Er war es, der mir gezeigt hat, dass man ein eigenes Orchester gründen muss. Das habe ich dann getan.

Ludwig van Beethoven

Sinfonie Nr. 1, 1. Satz

Orchestre Révolutionnaire et Romantique, John Eliot Gardiner (1994)

Archiv/Universal

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Das könnte vieles sein. Etwas pittoresk. Jetzt hört man, dass es Zemlinsky ist: „Der Zwerg“. Das habe ich schon als Flötist an der Opéra de Paris gespielt. Vielleicht unter diesem Dirigenten? Dieser Komponist war James Conlons Steckenpferd. Und: Bravo dafür! Ich mag diese Periode sehr. Nach-Romantik, wo man noch nicht so genau wusste, in welche Richtung die Reise geht. Viele Referenzen, viele Wege. Und der untrügliche Verdacht, dass etwas zu Ende gegangen ist. Man hört die Angst vor Vater Wagner, dessen Einfluss noch immer gilt. Klingt sehr gut! Bei dem Gürzenich-Orchester, das sozusagen mein neues Orchester ist, handelt es sich um ein sehr spezielles Ensemble, weil es beide Gesichter hat: Konzert und Oper. Man spürt französische Luft, aber ebenso belgische, holländische. Und fühlt sich progressiv. Das alles mag ich. Ich will zeigen, wie uns Geschichte motivieren kann. Denn dieses Orchester hat immerhin unter Brahms, Mahler, Berlioz und Reger gespielt.

Alexander Zemlinsky

„Der Zwerg“, Beginn

Gürzenich-Orchester, James Conlon (1996)

EMI

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„Also sprach Zarathustra“, in einer alten Aufnahme. Nicht zu breit ausgewalzt. Und mit Strenge. Das ist sehr schön, denn es ist einfach, perfekt ausbalanciert, in gutem Tempo, eher schnell. Da höre ich gerade ein paar kleinere Probleme in der Intonation. Fritz Reiner? Interessant. Würde man heute noch genauso machen können wie damals. Strauss war in Wirklichkeit sehr objektiv und präzise. Er funktioniert immer gut, weil er bei der Organisation so klar und dramaturgisch vorging. Man braucht keine Überinterpretation. Sondern nur eine gute Brille. Reiner hat vermutlich ein politisches Ziel mit der Aufnahme verfolgt: Er wollte zeigen, dass auch nach dem Kriegstrauma wieder deutsche Musik gespielt werden kann. Nicht die Spur kitschig! Toll.

Richard Strauss

„Also sprach Zarathustra“

Chicago Symphony Orchestra, Fritz Reiner (1960)

RCA/Sony

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Das ist eines der „Chants d’Auvergne“ von Canteloube. Ziemlich kitschig. Aber schön! Die Sopranistinnen lieben das. Ein großer Zyklus, den ich schon einmal mit Anna Caterina Antonacci gemacht habe, und demnächst mit Renée Fleming. Immer auf Wunsch der Sängerinnen. Die Sopranistin erkenne ich nicht, aber mir klingt das hier etwas zu zarzuelahaft. Die Auvergne-Region ist erstaunlich unbekannt in Frankreich, wenig touristisch. Dort existiert aber ein enormer Volksmusikschatz. Victoria de Los Angeles? Ja, da haben Sie mich ertappt. Sie kenne ich wenig. Aber sie bringt hier eine besondere Farbe hinein, die ihr selber gut steht. In Frankreich kennt man das Lied in und auswendig wegen einer Mineralwasser-Werbung im Fernsehen.

Joseph Canteloube

Chants d’Auvergne, „La pastoura als camps“

Victoria de los Angeles, Orchestre Lamoureux, Jean-Pierre Jacquillat (1969)

Warner

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(Beim zweiten Ton:) „Amériques“ von Varèse. Und zwar live! Schnell, ouh!! Ein unglaubliches Werk, ich bin totaler Varèse-Fan. Habe gerade ein Interview mit ihm auf Youtube gesehen. Erstaunlich, wie visionär er sich in allen Dingen, auch über die Musikgeschichte äußerte. Er baute eine Art neues System für Melodien. Und geht beim Rhythmus weiter als Strawinski oder Bartók. Das hier ist ein tolles Orchester, sehr lebendig, mit viel Kontrast und einer schönen Sonorität. Das könnte das Concertgebouw- Orchester sein, aber ebenso auch ein deutsches Orchester. Das DSO unter Metzmacher? Ein bisschen schnell, aber sehr schön. Man könnte hier vielleicht ein bisschen mehr Zeit gebrauchen, um die Profile in der Musik zu verstehen. Aber das ist Ansichtssache. Bravo! Das ist super gemacht.

Edgard Varèse

Amériques

Deutsches Symphonie-Orchester Berlin, Ingo Metzmacher (2007)

Challenge/New Artists International

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Robert Fraunholzer, 17.09.2016, RONDO Ausgabe 4 / 2016



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