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N° 1353
13. - 24.04.2024

nächste Aktualisierung
am 20.04.2024



Startseite · Interview · Gefragt

(c) Thomas Niedermüller

Marcus Bosch

Der Überzeugungstäter

Der Dirigent verbindet Star-und Management- Qualitäten mit dem Ideal des breit aufgestellten Kapellmeisters.

Wenn man sich für ein Interview mit Marcus Bosch vorbereitet, kann man leicht den Überblick verlieren. Denn der 48-Jährige bewältigt eine derartige Fülle von Verpflichtungen und Projekten zwischen Nürnberg und Rostock, als Generalmusikdirektor, Festivalleiter, mit Gastierverträgen, Plattenverträgen, Residenzen und Gremien –, dass man fast von einem Imperium sprechen könnte. Zum Interview treffen wir uns in Köln, Bosch ist auf der Durchreise von Nürnberg, wo er seit 2011 Generalmusikdirektor ist, nach Aachen, wo er bis 2012 als Generalmusikdirektor erfolgreich das Musikleben der Stadt quasi neu aufbaute und wo bis heute seine Kinder leben. Derzeit läuft sein Motor auf Hochtouren: Am Vorabend dirigierte er in Nürnberg ein Sinfoniekonzert mit Dvořák-Werken, wenige Tage zuvor kam Hector Berlioz’ „Les Troyens“ in einer Neuinszenierung von Calixto Bieito zur Premiere, mit dem Wintersemester 2016 hat er die Nachfolge von Bruno Weil als Professor für Dirigieren an der Hochschule für Musik und Theater in München angetreten. Trotzdem wirkt Bosch entspannt, gleichwohl hoch konzentriert. Wie schafft man das alles?
„Die Arbeitslast ist im Moment in der Tat gewaltig, dieses Jahr ist es eine fast unmenschliche Situation, das geht nur mit sehr genauer Kalenderplanung.“ In seiner Aachener Zeit als GMD bewies Bosch im Opernhaus Stilbreite von Mozarts frühen Opern über Uraufführungen bis hin zu schlank angelegten Wagner-Interpretationen. Im Konzert- Bereich sorgte er nicht zuletzt auch mit seinen Vermittlerqualitäten für frischen Wind und steigende Abo-Zahlen. 2018 wird er seine Nürnberger GMD-Stelle zugunsten einer Vollzeit-Professur in München abgeben, obwohl er in Nürnberg gerade auf dem Höhepunkt seiner Möglichkeiten zu sein scheint. „Die Frage nach den Höhepunkten ist immer schwierig, aber ja, ‚Les Troyens‘ sind natürlich ein Höhepunkt. Und natürlich alle Wagner- Aufführungen in Nürnberg. Angefangen von den ‚Meistersingern‘, die ohne Kameraprobe direkt als DVD produziert und auf arte gesendet wurden, oder ‚Tristan‘, mit der ersten Premiere live im Kino. Natürlich: Die größten Klassik- Open-Air-Konzerte Europas mit jeweils 90.000 Leuten waren Höhepunkte. Und das komplizierteste Projekt steht noch an: Zimmermanns ‚Soldaten‘ in der Regie von Peter Konwitschny.“

Wagner lyrisch, Verdi im Licht

In Aachen dachte Bosch seinen Wagner-„Holländer“ musikalisch von der Spieloper in der Lortzing-Tradition her, sein „Lohengrin“ klang so lyrisch leicht. Auch in Nürnberg hat er diesen Weg der Durchlüftung weiter verfolgt. „Das war ein Annäherungsprozess. Ich erinnere mich, bei den ‚Meistersingern‘ mussten wir ganz viel radieren, da standen noch viele Tenuti von früheren Einstudierungen im Material. Und wie oft habe ich gehört: Wagner muss schwer und auch oft laut sein! Wir hatten viele Diskussionen über Tempo und Schwere der Musik.“
Seit 2010 ist der gebürtige Heidenheimer Bosch künstlerischer Direktor der Opernfestspiele Heidenheim und hat auch dort viel Energie in alle Bereiche gepumpt. „Das Festival hat sich unglaublich entwickelt in den acht Jahren, in denen ich es leite. Die Publikumszahlen konnten wir mehr als verdoppeln. Das Budget wurde von knapp 700.000 Euro auf 2,4 Mio. Euro angehoben. Früher gaben Sponsoren ca. 100.000 Euro, jetzt haben wir 600.000 Euro Sponsorengelder. Das geht natürlich nur mit Klinken putzen, aber auch der wachsende Glanz sorgt für Sponsoren. Sowohl für das Festival als auch die Cappella Aquileia gibt es inzwischen zwei Bürgerfördervereine, die rund 150.000 Euro jährlich beitragen. Das ist wohl in keiner anderen Stadt dieser Größe denkbar. Heidenheim hat nur 50.000 Einwohner, ist aber der Sitz von drei Weltfirmen: Voith, Zeiss und Hartmann. Und ich habe das Glück, dass im Kuratorium des Festivals die Chefs dieser Firmen sitzen, die tatsächlich opernaffin sind. Deshalb konnten wir so expandieren, und dann wurde auch die Landesförderung verdoppelt.“
Die Cappella Aquileia – der Name verdankt sich dem römischen Namen der Stadt Heidenheim – wurde von Bosch eigens für das Festival gegründet. „Ich wollte ein Festspielorchester nach Luzerner Vorbild. Wir rekrutieren also Musiker, die mir auffallen und von denen ich denke, dass sie zu uns passen würden. Die Besetzung mit acht ersten Geigen ist bewusst klein.“ Wendig und doch schlagkräftig sind auch die Produktionen für das Festival konzipiert. „Wir wollten für jeden Spielort eine Produktion haben. Draußen auf der Burg wird unverstärkt gesungen und aufwändig inszeniert, das ist die DNA des Festivals, auf die wir nicht verzichten wollen! Bei der Verdi-Reihe drinnen arbeiten wir fast nur mit Licht und Requisiten. Oft versteckt sich die Opern-Regie ja hinter dem Bühnenbild. Für die Indoor Produktion ist der Bühnenbildetat praktisch bei Null, und mit zwei Wochen Probenarbeit haben wir sozusagen englische Verhältnisse.“
Als Interpret überrascht Marcus Bosch immer wieder mit neuen, frischen Lesarten, die aber weder sensationshaschend krasse Effekte pflegen noch genialisch zelebriert werden. Bosch ist Pragmatiker. Aber ein eigenwilliger. „Das Entstehen einer Interpretation ist ein langer Prozess: Zuerst liegt lange die Partitur in Sichtweite. Dann kommt eine gründliche Analyse. Aus dem Notenbild entsteht dann sehr schnell eine Vorstellung von den Tempi, der Agogik. Und dann trifft das auf die Wirklichkeit. Manchmal gehen meine Vorstellungen 1:1 auf, manchmal aber trifft man auch auf Sänger und Musiker, die mit dem Werk ganz andere Erfahrungen haben. Dann entsteht in dieser Reibung eine Interpretation. Bei den ‚Trojanern‘ hab ich mir gar keine Aufnahmen angehört, aber viel gelesen. Es ist ja eine Mär, dass das Stück so lang ist. Berlioz selbst schrieb, dass das Werk 206 Minuten, also drei Stunden und 26 Minuten dauert. Man liest aber immer wieder, dass ‚Les Troyens‘ über vier Stunden dauert. Diese gedehnte Auffassung gibt dann diesen trägen Fluss, der für Berlioz immer noch common sense, aber falsch ist.“
Parallel zum Opern- und Konzertalltag realisierte Bosch stets auch ausdauernd zyklische Einspielungen. Nach Bruckner und Schumann steht nun eine Gesamteinspielung von Dvořáks sinfonischen Werken kurz vor ihrem Abschluss. „Im Konzertsaal hört man eigentlich immer nur die Sinfonien sieben, acht und neun. Zu Unrecht, denn ich denke, dass das ganze sinfonische Schaffen Dvořáks ins breite Repertoire gehört! Auch die sinfonischen Dichtungen, wie etwa das ‚Spinnrad‘ – das ist eine fantastische Komposition! Auch die ersten drei Sinfonien haben einen Repertoirewert und sind wichtig, um Dvořáks Entwicklung zu begreifen. Der Weg von der ersten bis zur neunten ist bei Dvořák ja ungleich weiter als bei Beethoven. Es ist ein Geschenk, Dvořák so entdecken und mit dem Orchester so wachsen zu können. Man weiß ja nie, wie sich so ein Projekt entwickelt, und ich muss sagen, am Anfang war die Skepsis noch groß, ob das wirklich tragfähig ist. Aber der Entdeckergeist hat sich bewährt. Gestern gab es einen Riesenjubel nach der Zweiten. Das ist effektvolle, großartige Musik.“

opernfestspiele.de

Zuletzt erschienen:

Antonín Dvořák

Sinfonie Nr. 1 (live)

Staatsphilharmonie Nürnberg, Marcus Bosch

Coviello/Note 1

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Erscheint demnächst:

Antonín Dvořák

Sinfonie Nr. 2 (live)

Staatsphilharmonie Nürnberg, Marcus Bosch

Coviello/Note 1

Giuseppe Verdi

Un giorno di regno (Gesamtaufnahme, Live-Mitschnitt von den Opernfestspielen Heidenheim)

Abuladze, Fersini, Mayer, Jansson, Talamo, Steffens, de la Guardia, Dropulja, Tschechischer Philharmonischer Chor Brünn, Cappella Aquileia, Marcus Bosch

Coviello/Note 1

Jeder Zeit ihren Klang

Das Aachener Orchester imponierte in der Zeit von Boschs Stabführung mit hoher Stilkompetenz und Originalklang-Qualitäten. Dergleichen ist nur vorstellbar mit einem entschiedenen Orchestererzieher. „Das ist ein schreckliches Wort, aber wenn man so will, stehe ich dafür in hohem Maße. Für mich ist wesentlich, für jeden Komponisten einen eigenen Klang zu finden. Deshalb finde ich auch die Debatte um den ‚deutschen Klang‘, die durch die Feuilletons waberte, absurd. Was soll das sein? Den ‚deutschen Klang‘ hat es doch nie gegeben zu der Zeit für jene Komponisten. Auch Wagner hat zu Lebzeiten völlig anders geklungen als heute! Deshalb ist diese Diskussion falsch, ewig gestrig und hält sich an Bequemlichkeiten fest.“

Regine Müller, 25.11.2017, RONDO Ausgabe 6 / 2017



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