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N° 1353
13. - 21.04.2024

nächste Aktualisierung
am 20.04.2024



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(c) Art Streiber

Michael Tilson Thomas

Filmreife Sinfonik

„MTT“ legt seine Lesart der Sinfonien von Robert Schumann vor – live und mit stark variierenden Besetzungen.

Im Oktober wurde bekannt, dass Michael Tilson Thomas im Juni 2020 nach dann 25 Jahren seinen Posten als Chefdirigent des San Francisco Symphony Orchestra aufgeben will. Ausgerechnet im Jubeljahr zu Beethovens 250. Geburtstag, aber das kümmert den Maestro nicht, der 2020 seinerseits seinen 75. Geburtstag feiern wird – und sich keineswegs aufs Altenteil zurückzuziehen gedenkt.
In einem luxuriösen Schuber steckt seine Neueinspielung der Schumann-Sinfonien, die beim orchestereigenen Label SFS Media erschienen ist. Die Aufnahme entstand in der Davies Symphony Hall, deren Akustik durch maximale Transparenz besticht und zugleich warme Opulenz entfaltet. Erneut hat Tilson Thomas sich für Live-Mitschnitte entschieden.
„Ich habe viele Studio-Aufnahmen gemacht, wo wir gleichzeitig geprobt und aufgenommen haben. Diese Art zu arbeiten wurde mir im Nachhinein zu analytisch. Denn ich mag eigentlich sehr viel mehr den Spirit einer richtigen Live-Aufführung. Ich bin einfach viel glücklicher mit diesen Ergebnissen, denn da entsteht eine ganz andere Energie.“
In seiner Schumann-Interpretation setzt Michael Tilson Thomas auf stark variierende Besetzungen, die Zahl der Musiker schrumpft bei Bedarf bis auf solistische oder kammermusikalische Kombinationen. Der in breitem Legatofluss suppende Brei, der Schumanns Sinfonien häufig so massig und dumpf klingen lässt, ist Tilson Thomas ein Gräuel. „Schumann hat in einem Brief geschrieben, wenn er sechs Monate braucht, um ein Stück zu schreiben, kostet es ihn noch einmal ein Jahr zu entscheiden, wie er die Dynamik und die Phrasierung formulieren soll.“
Die reduzierten Besetzungen öffnen ungeahnte Freiheiten und ermöglichen eine nie gehörte Intimität. Tilson Thomas denkt die Sinfonien aus dem Geist von Schumanns Klavier- und Kammermusik: „Ein Klavierstück ermöglicht viel Spontaneität, die Farben und Nuancen passieren ganz natürlich. Mein Gedanke war, mehr von dieser Fantasie in seine Orchestermusik zu übertragen.“
Ganz konkret schlägt sich dieser Ansatz nieder in manch bemerkenswertem Bruch mit Hörgewohnheiten, etwa im berühmten ersten Satz der „Rheinischen“: „Der Beginn wird meist hemiolisch gespielt, aber wenn man diese ersten Takte vom Klavier her denkt, ist völlig klar, dass man für die Tonwiederholungen absetzen und erneut anschlagen muss. Man muss die Hand heben, und so entsteht Luft zwischen den Wiederholungen. Ich denke, es muss genau so klingen, als würde man es auf dem Klavier spielen!“
Die stark wechselnden Orchesterstärken betrachtet Tilson Thomas nicht als mutwillige Neuerung, sondern als Fortschreiben gängiger, aber heute weitgehend vergessener Traditionen sinfonischer Aufführungspraxis. „Ich habe mir das Orchestermaterial angesehen, das Gustav Mahler benutzt hat von Werken Beethovens und Schumanns. Auch er hat ständig den Zuschnitt des Orchesters gewechselt. Das ist früher offenbar absolut üblich gewesen und abhängig davon, wo man spielte. Und ich bin mir sicher: Vieles von Schumann ist gedacht wie für ein Brahms-Sextett, und dann wieder öffnet es sich zu enormer Größe. Es ist ein Verfahren, das vergleichbar ist mit dem Film. Es gibt einerseits die großen Totalen, aber auch die Close-ups. Und viele unterschiedliche Perspektiven.“

Neu erschienen:

Robert Schumann

Sinfonien Nr. 1-4 (live)

Michael Tilson Thomas, San Francisco Symphony Orchestra

SFS Media/Edel

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Regine Müller, 03.03.2018, RONDO Ausgabe 1 / 2018



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