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Nur sehr wenige Dirigentinnen haben es wie Marin Alsop bislang in Spitzenpositionen bei internationalen Orchestern gebracht. Genau das hat sie abgehärtet. Und umso schlagfertiger gemacht. Zum Beispiel für São Paulo. Der Konzertsaal des São Paulo Symphony Orchestra, das Marin Alsop im letzten Jahr übernahm, liegt in einem der gefährlichsten Stadtviertel der brasilianischen Metropole. „Ich geh’ da nicht raus“, so Alsop über eine von Drogen, Diebstahl und Straßen-Kriminalität geprägte Atmosphäre. „Alles, was man hier tut, fühlt sich riskant an“, so die 56-Jährige, die zuvor in Bournemouth und Baltimore für Erfolg sorgte. „Es ist ein ziemliches Chaos, aber die Menschen im Publikum sind klassikbegeistert wie überall auf der Welt.“
Das Bruttosozialprodukt Brasiliens ist größer als das von Großbritannien, so erzählt tags darauf Ex-Präsident Fernando Henrique Cardozo, der die Stiftung des Orchesters leitet. Trotz 195 Millionen Einwohnern zählt man nur rund 25 Millionen Steuerzahler. Ein erstaunlicher Stamm von 11.000 Abonnenten macht verständlich, warum man von einer „Musik-Supermacht Brasilien“ spricht. Für den Konzertsaal des OSESP hat man 1999 einen gründerzeitlichen Bahnhof aufwendig umgerüstet. Die ehemalige Wartehalle wurde mit 15 verstellbaren Decken-Hubpodien akustisch flott gemacht. Der Saal entspricht in Größe und Anmutung in etwa der Tonhalle Zürich. Und klingt mindestens so gut. „Es gibt hier keine große Orchester-Tradition, auf die man zurückfallen könnte“, so Alsop. „Dafür wird dem Orchester eine Education-Funktion zuerkannt, von der man sich in Europa eine Scheibe abschneiden kann.“
Dank ihrem ungemein energetischen Dirigierstil hat die Bernstein-Schülerin mit Beginn ihrer auf mindestens zehn Jahre angelegten Ära einen CD-Auftrag für sämtliche Prokofjew-Sinfonien mitgebracht (Naxos). Die Konzerte werden via Internet übertragen. Aufführungs-Marathons, Open Airs, Akademien und Internetprojekte zeigen, dass die Brasilianer kein Mittel auslassen, um moderner zu erscheinen als europäische und amerikanische Traditionsorchester. Wer in São Paulo Konzerte besucht, kann mit Händen greifen, warum Südamerika vielen als Zukunftsland der Klassik gilt.
Robert Fraunholzer, 30.11.1999, RONDO Ausgabe 2 / 2013
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