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N° 1354
20. - 26.04.2024

nächste Aktualisierung
am 27.04.2024



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Hilary Hahn

»Ich brauche die Abwechslung«

Hilary Hahn begann ihre Karriere als Wunderkind. Inzwischen ist die Geigerin zu einer erwachsenen Künstlerin gereift, die zu den besten Interpretinnen ihrer Generation zählt. Lyrische Eleganz und noble Leidenschaft – das sind die Markenzeichen der jungen Amerikanerin, deren Vorfahren aus der Pfalz stammen. Miquel Cabruja hat sich mit ihr in Düsseldorf zu einem Gespräch getroffen.

RONDO: Frau Hahn, in Europa haben zeitgenössische Werke oft einen sehr elitären Anspruch. In den angelsächsischen Ländern hat man stattdessen den Eindruck, dass Neue Musik vorrangig für das Publikum komponiert wird. Gilt das auch für Jennifer Higdons Violinkonzert?

Hilary Hahn: Jennifer Higdons Konzert ist wirklich für das Konzerterlebnis geschrieben. Ihre Musik lebt von der Kommunikation mit dem Publikum, braucht aber auch die präzise Interaktion der Musiker untereinander. Es gibt in dieser Partitur ungewöhnlich viele Soli und kammermusikalische Passagen, in denen die Orchestermusiker glänzen können. Die ersten Minuten des Konzertes sind eigentlich ein Trio.

RONDO: Das klingt so, als stelle Higdon an ihre Interpreten extrem hohe Ansprüche.

Hahn: Man muss sich sehr genau mit der Partitur auseinandersetzen, damit der große Bogen gelingt. Das Stück ist rhythmisch außerordentlich komplex und bietet viele Freiheiten auf einem technisch sehr hohen Niveau. Deswegen gibt es auch beim mehrmaligen Anhören und Interpretieren Neues zu entdecken: Wann habe ich sonst schon Gelegenheit, mit einem Glockenspiel zusammen zu spielen, das mit Stricknadeln angeschlagen wird?

RONDO: Wie kamen Sie darauf, Higdons Konzert mit dem Klassiker von Tschaikowski zu kombinieren?

Hahn: Ich finde, dass beide Konzerte, auch wenn sie aus verschiedenen Epochen stammen, viele Gemeinsamkeiten haben. Mit Tschaikowskys Konzert kam ich das erste Mal in Berührung, als ich noch eine junge Schülerin am Curtis Institute war. Danach spielte ich es öfter, bevor ich es für ein, zwei Jahre beiseite legte, wie ich damals dachte. Stattdessen vergingen jedoch zehn Jahre.

RONDO: Haben Sie sich bewusst für die Originalfassung von Tschaikowskis Konzert entschieden?

Hahn: Als ich zu Tschaikowskis Konzert zurückkehrte, hatte sich meine Sicht vollkommen verändert. Ich hatte ein Gespür für die feinen Nuancen und die vielen Facetten der Musik bekommen: diese verletzliche Wildheit, die sich hinter der Klassizität der Form verbirgt ... Als junges Mädchen hatte ich die Fassung von Leopold Auer gespielt, der zu Lebzeiten des Komponisten entscheidende Kürzungen und Ausschmückungen vornahm. Ich habe mich nicht bewusst für die Originalversion entschieden, habe jedoch in der Auseinandersetzung mit der Musik zunehmend gespürt, dass ich alle Noten so spielen will, wie Tschaikowski sie geschrieben hat.

RONDO: Es geht Ihnen also weniger um historische Korrektheit?

Hahn: Ich bin kein Typ, der sich der Forschung verschreibt. Ich liebe es, mit Musikern zusammenzuarbeiten, die von der Alten Musik herkommen. Es ist faszinierend, was die alles über Phrasierung, Strichtechnik und Ornamentierung wissen. Aber Musik funktioniert für mich anders. Ich erarbeite meine Interpretationen instinktiv, so dass sie für mich Sinn ergeben. Ich muss für mich selbst herausfinden, was mich an einer Komposition anspricht, und daraus meine eigene Sicht entwickeln.

RONDO: Klingt nach einer ausgeprägten Neugier. Kommt daher auch Ihr Interesse an zeitgenössischer Musik?

Hahn: Für mich ist die Musik als Ganzes wichtig. Ich versuche, die ungeheuer reiche Landschaft der klassischen Musik für mich zu erschließen und alle Lücken zu füllen, die ich in meinem Repertoire habe. Ich brauche die Abwechslung und möchte natürlich alle Werke spielen, die seit langem das Publikum begeistern. Gleichzeitig will ich aber auch jene großartigen Stücke kennenlernen, die noch weitgehend unbekannt sind. Wenn ich Higdon spiele und mich danach mit Tschaikowski beschäftige, habe ich eine ganz andere Perspektive auf seine Musik. Diese Form der Auseinandersetzung macht meinen Beruf für mich erst interessant.

Peter Tschaikowski, Jennifer Higdon

Violinkonzerte

Hilary Hahn, Royal Liverpool Philharmonic Orchestra, Vasily Petrenko

DG/Universal

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Miguel Cabruja, 30.11.1999, RONDO Ausgabe 1 / 2011



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