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N° 1354
20. - 26.04.2024

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am 27.04.2024



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Haste Töne¿

Raoul Mörchen stellt Neuerscheinungen mit zeitgenössischer Musik vor.

Schon wieder fangen diese Spalten an mit einem, der eigentlich nicht hierher gehört, weil seine Musik nicht neu ist. Auch diese ist es nicht. Und war es nie. Dmitri Schostakowitsch schrieb seine »24 Präludien und Fugen« 1950, zwei Jahre nachdem er von Stalins Handlangern fast kaltgestellt worden war. An ästhetische Innovation war da nicht zu denken. Sie war auch gar nicht nötig angesichts der Aufgabenstellung. Denn natürlich ist dieser Zyklus eine Hommage ans »Wohltemperierte Klavier«. Bach bot Schostakowitsch Halt in dieser Zeit. Vor allem in den Fugen konnte er sich an handwerklichen Problemen abarbeiten, ohne wieder als Formalist abgestraft zu werden. Bach, der war auch unter Stalin wohlgelitten. Aufnahmen von Schostakowitschs Werk gibt es einige mittlerweile, diese hier aus dem Sommer 1975 verdient besondere Aufmerksamkeit: Der australische Pianist Roger Woodward ist eines der großen Klaviergenies unserer Zeit – ein klar und frei formulierender Künstler mit einem phänomenalen Sinn für die jeweils eigenen Gesetze, die in jedem Werk walten. Morton Feldman nannte Roger Woodward schlicht seinen Lieblingspianisten, Schostakowitsch hätte sich seinem Urteil nach dieser Aufnahme vielleicht angeschlossenen. Eine tolle Wiederveröffentlichung. (Celestial Harmonies/Naxos 143022)

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Unerhört ist auch die Musik von Saed Haddad nicht: Sie klingt exotisch und doch nicht fremd. Haddad ist ein Grenzgänger: In Jordanien als Christ geboren, dort wie auch in Israel und England ausgebildet, seit einigen Jahren in Deutschland beheimatet, sagt Haddad von sich selbst, er sei immer ein Anderer. Die Musik des 38-Jährigen ist ein wohlüberlegter Balanceakt zwischen arabischer Tradition und europäischer Moderne, zumindest war sie es einmal. Frühe Arbeiten zeigen arabisches Timbre in der Melodik mit eingesprengten fremdartigen Tonhöhen, einen fast improvisatorischen Fluss, dann wiederum Brechungen, Stauchungen, schmerzhafte Reibungen – gespielt auf europäischen Instrumenten. East meets West – ein schöner Gedanke. Gleichzeitig ein schönes Klischee. Saed Haddad wollte es offenbar nicht dazu kommen lassen, als politisch korrekter ›Mittler‹ zweier Welten Karriere zu machen. Durch das kleine Porträt, das der Deutsche Musikrat von Haddad veröffentlicht, geht ein Riss: Seit 2007 hat Haddad seine Verbindung zur arabischen Kultur radikal gekappt. Die seitdem komponierten Werke stehen klanglich fest auf dem Boden der westeuropäischen Avantgarde. Doch ob mit Blick auf den Nahen Osten oder nicht – Haddads Musik hat Hand und Fuß, Anfang und Ende, ist voller Abwechslung und gleichwohl einsichtig in dem, was sie tut. Wie weit Haddad mit dieser Musik kommt, ist schwer zu sagen. Man sollte ihr jetzt erst mal zuhören, das hat sie allemal verdient. (Wergo/Note 1 WER 65782)

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Während Saed Haddad also das Projekt einer musikalischen Ost-West-Achse aufgegeben hat, trägt es seine Kollegin Konstantia Gourzi in Regionen, die sich dem nähern, was man gemeinhin Weltmusik nennt. Jazz-Klavier, europäische Avantgarde, Instrumente und Melodien des osmanischen Reiches, byzantinischer Psalmgesang – Gourzi vermischt, was ihr gefällt. Was sie serviert, ist dann allerdings eher ein Salat als ein Longdrink: Die Zutaten bleiben unterscheidbar und bewahren viel von ihrer ursprünglichen Identität. »Aus Allem Eins und aus Einem Alles« zitiert die in München lehrende Komponistin, Pianistin und Dirigentin ihren weisen Landsmann Heraklit und komponiert dementsprechend. Zu- mindest die vorliegende Auswahl von Vokal- und Instrumentalwerken der letzten Jahre ist tief durchdrungen von einer Sehnsucht nach harmonischer Reinhaltigkeit und einer Überwindung kultureller Differenzen. Dieser Ansatz und seine technische Ausführung mögen dem einen oder anderen skeptischen Zeitgenossen vielleicht arg naiv vorkommen. Gourzis mediterranes Gruppenbild aber ist zu sonnig und freundlich, als dass man allzu streng darüber urteilen möchte. (Neos/Codaex NE OS 11035)

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Zum Schluss dann doch noch was für ganz Harte. Selten spitzt sich die Musikgeschichte so zu wie in den frühen 1950er Jahren. Getrieben vom Wunsch nach einer Musik ohne Beigeschmack und Erinnerung, entwirft Pierre Boulez in Frankreich die Idee einer lückenlos durchorganisierten Partitur, während sein Brieffreund John Cage in New York ein sehr ähnliches Ziel ansteuert, indem er das glatte Gegenteil tut. Die unterschiedlichen Ansätze führen zum Bruch der Freundschaft, obwohl die Ergebnisse klanglich sehr nah beieinander liegen. Pi-Hsien Chen, pianistische Wunderwaffe der neuen Musik seit vier Jahrzehnten, versöhnt beide Seiten wieder. Verstärkt durch den Kollegen Ian Pace verzahnt sie die zwei Teile der kaltglitzernden »Structures« von Boulez mit »Music for Piano« von Cage. Radikal auch das Aufnahmeverfahren der Cage-Stücke: Beide Pianisten spielten Passagen daraus getrennt voneinander ein, der Tonmeister legte sie anschließend nach eigenen Kriterien übereinander. Traditionalisten schütteln darüber vermutlich heute den Kopf wie damals. Dabei schreiben beide, Boulez wie Cage, die Geschichte nicht um, sondern fort: Sie führt von Beethovens Motivvariationen über Brahms’ ›entwickelnde Variationen‹ und Schönbergs Zwölftontechnik zu Verfahren, die alles Variation werden lassen. Die alte Trennung von Thema und Veränderung ist endgültig überwunden. Wer Ohren und Nerven hat, der höre. (hat hut/ harmonia mundi HAT CD 175)

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Raoul Mörchen, 30.11.1999, RONDO Ausgabe 1 / 2011



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