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N° 1354
20. - 26.04.2024

nächste Aktualisierung
am 27.04.2024



Startseite · Interview · Blind gehört

(c) Roland Schmidt

Blind gehört

Markus Becker

Nach Regers gesamten Klavierwerken legt Becker nun drei Sonaten von Hindemith vor.

„Eine der seltenen wahrhaft großen Leistungen deutscher Pianistik der letzten fünfzig Jahre“, wurde Markus Beckers Gesamteinspielung des Regerschen Klavierwerks in den 90er Jahren gefeiert. Seitdem hat sich der passionierte Kammermusiker und bekennende Jazzfan, der als Professor an der Hochschule seiner Heimatstadt Hannover unterrichtet, auch um Komponisten wie Widor, Schulhof und Franz Schmidt verdient gemacht. Im November erscheint seine Einspielung der drei Klaviersonaten von Hindemith.

Sehr ernsthaft, mit Mut zur Schärfe und zur Dissonanz. Das hat nichts „Raffiniertes“, es wird mit sehr starken Farben gearbeitet und kommt aus der orchestralen Idee. Und das macht sich über den Verlauf des Stückes hinweg bezahlt. Was im Mittelteil plötzlich an zarten Farben erklingt, ist dann umso erstaunlicher. Es ist großformatig angelegt wie ein Riesen-Sonatensatz. Wenn ich tippen soll: Richter? Backhaus? Kempff hätte ich diese Schwere nicht zugetraut. Solch ein ernstes, fast störrisches Klangbild hört man heute kaum noch, auch nicht dieses Stehende. Aber mir imponiert dieses ganz Ehrliche. Dabei klingt es überhaupt nicht primitiv. ... Was ich zum Beispiel bei Backhaus sehr bewundere, wenn ich ihn Beethoven, Haydn, Bach spielen höre, ist dieses auf den ersten Blick nicht raffinierte Spiel, was aber im großen Format trägt, weil es sich nicht in Details verheddert und den großen Fluss nachzeichnet. Und man hat tatsächlich das Gefühl, eine Bach-Suite zu hören und nicht das Spiel eines bestimmten Pianisten. ... Meinen ersten bleibenden Eindruck von sinfonischem Klang habe ich dem väterlichen Tonbandgerät zu verdanken. Ich habe es als kleiner Junge einfach mal angeschmissen und hörte Brahms’ Vierte. Da war ich völlig baff. Seitdem bin ich von dieser Musik nicht mehr losgekommen. Die lässt sich ja wirklich eins zu eins vom Orchester aufs Klavier übertragen und umgekehrt. Wenn ich Brahms’ fis-Moll-Sonate spiele, was ich oft und gern tue, habe ich das Gefühl, ich bin eher Dirigent als Pianist. Das finde ich toll.

Johannes Brahms

Fantasien op. 116, Capriccio d-Moll

Wilhelm Kempff

Universal

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Das Klavier könnte sich manchmal etwas mehr aufdrängen, finde ich, die Geige führt sehr. Und das zwar Verhangene, aber dennoch Schwunghafte bei Schumann könnte für mich drängender sein. Aber sehr schön gespielt, ein exquisiter Geigenton. Es klingt nach einem eingespielten Trio. ... Mein Arbeitsbereich an der Hochschule in Hannover ist ja die Kammermusik. Wir bieten einen Masterstudiengang an für Ensembles und für Pianisten, die verstärkt Kammermusik machen möchten und sich im Rahmen des Studiengangs ihre Partner suchen. Das funktioniert hervorragend und macht viel Spaß zu unterrichten. Kammermusik ist auch deshalb so spannend, weil man gezwungen ist, gemeinsam ganz anders nachzudenken und Entscheidungen zu treffen. Und es kann einem einen unglaublichen Energieschub geben, wenn drei oder vier Leute am selben Strang ziehen.

Robert Schumann

Klaviertrio Nr. 3 g-Moll op. 110

Christian Tetzlaff, Leif Ove Andsnes, Tanja Tetzlaff

EMI

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Pianistisch souverän und sehr transparent gespielt, was mir sehr gefällt. Wobei dieses Stück dadurch ein bisschen seinen Geisterbahn-Charakter verliert. Diese Musik bietet sehr viel Widerstand, so viele Informationen pro Zeiteinheit – man wird harmonisch komplett durchgeschüttelt. Mit Widerstand meine ich aber auch das Manuelle, was manchmal, glaube ich, dazu gedacht ist, eine Art Kraftfeld zu erzeugen, das nicht mit leichter Hand zu überfliegen ist. Und es kann sein, dass es in dieser Aufnahme aufs ganze Stück gesehen fast zu leichthändig wirkt. Aber ich bewundere die Pianistik. Auch das Orchester spielt toll, sehr sauber, der Anfang ist wahnsinnig schwer. ...
Die Reger-Gesamteinspielung zu machen, zwölf CDs in den Jahren 1995 bis 2000, hat sich unbedingt gelohnt! Ich mag es, ein ganzes Werk kennenzulernen, und Reger hat wirklich verdient, dass man sich um ihn kümmert. Wobei ich auch seine negativen Seiten sehe. Alles was er getan hat, hat er übertrieben. Seine Manuskripte sind wunderschön, damit könnte man sich die Wände tapezieren. Schöne schwarze Tinte und alle Zusätze in rot. Er hat allerdings alles überbezeichnet. Wo jeder ohnehin ein Ritardando macht, hat er es noch hingeschrieben. Was zur Folge hat, dass man das nur ignorieren kann, wenn man nicht alles übertreiben möchte. Reger will immer alles gleichzeitig sagen, fast manisch. Deshalb ist er in langsamen Sätzen so besonders gut – da ist er gezwungen, sich Zeit zu nehmen. Wenn man den Anfang seines Klavierkonzerts hört, hat man den Eindruck, es klingen beide Brahms-Konzerte gleichzeitig. Es gibt viel mehr gute Stücke von ihm, als man gemeinhin denkt. Und ich finde, Musik darf auch mal schwierig sein und muss sich nicht immer direkt erschließen. Man kann Regers Musik allerdings nicht anhören, wenn sie schlecht gespielt wird, was übrigens auch für Hindemith gilt. Es gibt Musik, die auch schlecht gespielt noch großartig ist. Und es gibt Musik, die darauf angewiesen ist, dass jemand erst einmal sortiert und ordnet und sie dann erst weitergibt. Wenn ich ein neues Stück von Reger lerne wie zuletzt eine Klarinettensonate, dann male ich mir einen Kringel an jeden verminderten Akkord. Und es gibt seitenweise Kringel. Reger geht permanent über verminderte Akkorde. Dass er sich nicht festlegt, dass er ins harmonisch Offene geht und trotzdem den spätromantischen Gestus hat, das ist das Verwirrende an dieser Musik. Sie gibt einem überhaupt keine Sicherheit. Was für ein toller Zustand!

Max Reger

Konzert f-Moll für Klavier und Orchester op. 114

Gerhard Oppitz, Bamberger Symphoniker, Horst Stein

Koch Schwann

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Das ist hübsche Musik. Gefällt mir sehr! Zwischendurch dachte ich schon, das sei Mendelssohn. Jetzt bin ich bei Dussek gelandet, und irgendwie habe ich die ganze Zeit das Gefühl, da imitiert jemand die Wiener Klassik ein paar Jahre später. Ist das Hummel? Der Mozart-Sohn – nein! Hochinteressant, die Orchester-Introduktion wird zu schnell dramatisch, da lässt er sich nicht genug Zeit, aber der Klavierpart ist wunderschön. Auch das Spiel gefällt mir sehr. Rund, sehr klar artikuliert, gut phrasiert, frisch. ... Dass ich Raritäten aufnehme, liegt auch an den Plattenlabels cpo und Hyperion, mit denen ich zusammenarbeite. Es gibt noch viel zu entdecken: Bei Dussek zum Beispiel hat man das Gefühl, er hat 30 Jahre früher als andere bestimmte Dinge formuliert. Und die Variationen von Franz Schmidt kommen im Konzert total gut an. Das Problem bei Komponisten aus der sogenannten zweiten Reihe ist oft eine Diskrepanz zwischen Form und Inhalt. Den Vorwurf würde ich Schmidt zum Beispiel für den langsamen Satz im Klavierkonzert machen, da gibt es Strecken, die zerfasern, und es ist kaum möglich, die Spannung zu halten. Aber seine Variationen sind in dieser Hinsicht perfekt.

Franz Xaver Mozart

Konzert für Klavier und Orchester Nr. 2 Es-Dur op. 25

Sebastian Knauer, Netherlands Chamber Orchestra, Philippe Entremont

Berlin Classics/edel

Über Spain improvisiere ich gern, aber diese Fassung kenne ich nicht, peinlicherweise. Improvisieren und ohne Notenvorlage zu spielen, ist für mich ganz normal. Bei uns zu Hause stand ein Klavier und bei meiner Tante ein Cembalo, auf dem ich als kleiner Junge stundenlang spielen konnte. Als Schüler habe ich dann in Jazz-Rock-Bands gespielt, erst als dann die Entscheidung fürs klassische Studium gefallen war, habe ich aufgehört, am Wochenende Verstärker durch die Gegend zu schleppen. Aber Jazz habe ich immer gespielt. Allerdings ist das alles handgemacht und vom Grifftechnischen gelenkt. Wenn ich sehe, was die Jazzer an Theorie und Skalentechnik intus haben, da bin ich voller Bewunderung. Jazz ist schon etwas ganz anderes. Da hat man einfach eine andere Form von Freiheit. Aber auf der Basis von großem Wissen und viel Erfahrung.

Spain

Chick Corea, London Philharmonic Orchestra

Sony

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Arnt Cobbers, 26.10.2013, RONDO Ausgabe 5 / 2013



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