Mag Claudio Arrau auch ein Gott der Beethoven-Interpretation gewesen sein, mit dem beengten Klangbild seiner berühmten Philips-Einspielung ging auch eine gewisse krampfige Angestrengtheit einher, alles mit letzter, gewichtiger Gültigkeit sagen zu wollen. Im Konzert konnte er diese bleierne Last gelegentlich abschütteln und das „Staatstragende“ mit dem impulsiven, spontanen Musizieren in Einklang bringen. So ist die „Appassionata“ von 1973, die man, von einem italienischen Sammler-Enthusiasten mitgeschnitten und von den Erben autorisiert, hier erstmals hören kann, gewaltig und zupackend, aber eben nicht hysterisch dahinjagend wie bei Richter. Arrau gelang es in seinen besten Jahren, Beethovens mittleren, hochklassischen Stil bis zum Grad einer fast aufgeblähten, überhitzten Größe zu treiben, die ein Zerfallen erahnen, sich aber nicht ereignen ließ. Ein paar Jahre später neigte sich Arraus Spiel dann schon spät-elegischer Finesse zu; man mag das Prestissimo des op. 109 etwas betulich finden, aber was im großen Variationssatz passiert, ist in ein paar Worten kaum zu fassen. Allein wie Arrau die soghafte Beschleunigung der letzten Variation eigentümlich bremst, als wolle er einfach nicht einfahren in die Katarakte dieser Trillerextase und sich an jedem herausgekneteten Akzent festhält, das verrät eine künstlerische Klasse, die einen „verdirbt“ für die nächsten Konzertabende mit all den juvenilen Langweilern. Gut so!
Rudolf Serkin ist wirklich ein Vergessener. Schön, dass die Sony endlich seinen gesammelten Studio-Beethoven, hauptsächlich aus den späten 60ern und frühen 70ern vorlegt – das war seit Jahren eine teure Rarität. Die Sonaten spielte Serkin nie vollständig, den „Feld-Wald-Wiesen-Beethoven (z. B. op. 28, die „Pastorale“) ließ er beiseite, und wer sich mit dieser spröden Klavierkunst einlässt, begreift auch bald, warum das so war. Wie ein bohrender Sonateninquisitor dringt er unter die tönenden Oberflächen, um die Gesetze thematischer Entwicklung freizulegen, alles lyrische, anmutige Wesen unwirsch beiseite kippend. Oder mit den maliziösen Worten des sonst so mild-kollegialen Ivan Moravec: „His sound is sick“. Serkins Kunst sollte nicht gefallen, bezaubern, glänzen, sondern kompositorische Wahrheit offenbaren. Und das überzeugt vor allem dort, wo man allzu oft nur parfümierten Klang hört und nicht begreift, was darunter liegt, etwa in der Trauermarsch-Sonate, die hier beunruhigend fahl und ausgeglüht wirkt. Es mag etwas paradox klingen, dass die eigenartige Qualität dieses unerbittlichen Klavierspiels jenseits des Hörbaren zu liegen scheint und sich nur im Geistigen zu vollenden scheint. Sind Serkins eigenartig spröde Interpretationen verklungen, bleibt immer ein umrissenes Bild im Bewusstsein hängen.
Eine Zugabe – schon ein paar Monate auf dem Markt, aber ich will diese Erstveröffentlichung nicht übergehen, es geht ja so viel unter in der CD-Flut. Das vierte Beethovenkonzert spielte Serkin live mit Mitropoulos (1950). Eine explosive Kombination, die die Ormandy-Studiofassung doch weit hinter sich lässt. Soviel furiosem, geradezu anti-lyrischem Vorwärtsdrang begegnet man im Kopfsatz wahrlich selten – das Publikum kann sich dann auch gar nicht halten und applaudiert unvermittelt …
Matthias Kornemann, 30.11.1999, RONDO Ausgabe 2 / 2013
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