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N° 1353
13. - 24.04.2024

nächste Aktualisierung
am 20.04.2024



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Simone Kermes

Barockende Diva in Netzstrümpfen

Nur eine der vierzehn Arien ihres neuen Programmes »Colori d’amore« gibt es bereits auf CD, alle anderen sind Ersteinspielungen – Simone Kermes erweitert erneut unsere Repertoirekenntnisse. Über kräftig gewürzte Suppen in der Küche wie auf der Bühne hat sich Jörg Königsdorf mit der deutschen Barockkönigin unterhalten.

Eine echte Operndiva erkennt man gerade dann, wenn sie nicht singt: Auch im Koblenzer Hauptbahnhof zieht Simone Kermes sofort die Blicke auf sich, sobald sie in die Eingangshalle stürmt. Die einen schauen auf die feuerrote Mähne, die anderen auf die weitmaschigen Netzstrümpfe und den knappen hellbraunen Minirock, und einige Passanten wissen vielleicht sogar, dass es sich bei der temperamentvollen Dame um Deutschlands Barocksängerin Nummer eins handelt, die hier, an ihrem Stadttheater, ihre Weltkarriere begonnen hat. Dass sie immer noch hier wohnt, hat sicher nicht nur mit der strategisch günstigen Lage der Stadt zwischen den Flughäfen von Köln und Frankfurt zu tun, sondern steht für die andere, ebenso wichtige Seite von Simone Kermes: die Basisanbindung, die jeder Interpret braucht, der zu virtuosen Höhenflügen nicht nur abheben, sondern auch sicher wieder herunterkommen will.
Tatsächlich verfällt Simone Kermes – nicht anders als viele ihrer großen Fachvorgängerinnen – auf der Bühne zwar gerne mal in Koloraturwahnsinn bis hinauf zum dreigestrichenen g, ist aber ansonsten eine Frau, die die Dinge von der praktischen Seite des Lebens sieht. Eine, die sich nicht nur hinter den Herd stellt, um ihre Besucher mit kräftig gewürzten Suppen zu verköstigen, sondern die auch ganz genaue Vorstellungen darüber hat, wie sie ihrem Publikum die Gefühle der barocken Opernheroinen am besten vermittelt. Egal, ob sie sich für ein Händel-Recital in den Reifrock schmeißt und sich die Haare zur vulkanausbruchartigen Turmfrisur auftoupieren lässt oder ob sie, wie neulich im Moskauer Puschkin-Museum, kurzerhand mit dem Mikrofonständer herumbarockt – langweilig sind die Auftritte von Simone Kermes nie. Und immer geht es bei ihnen um die Mischung aus Spektakel und Ergriffenheit, die schon zu Zeiten Händels und seiner italienischen Rivalen die Magie der Oper ausgemacht hat. »Ich singe keine Musik, von der ich nicht selber auch berührt bin«, bekennt Kermes, »ohne den emotionalen Zugang läuft bei mir nichts.«
Besonders oft hat es in den letzten Jahren bei der Barockoper gefunkt: Bei Händel und Vivaldi natürlich, aber vor allem bei den Arien der neapolitanischen Barockkomponisten, die Claudio Osele, Ex-Mastermind von Cecilia Bartoli, in den Musikbibliotheken für Kermes ausgegraben hat. Schon ihr letztes Album »Lava« war den lange vergessenen Italienern gewidmet, und auch »Colori d’amore« soll zeigen, dass Caldara, Scarlatti und Co. ihren heute berühmteren Kollegen durchaus das Wasser reichen konnten. Denn wie anders soll man es verstehen, dass Kermes ausgerechnet den größten Händel-Hit, Serses »Ombra mai fu« in der Vertonung seines Erzrivalen Giovanni Bononcini aufgenommen hat? »Ich finde Bononcinis Version sogar besser«, bekräftigt sie. »Eine wunderschöne schlichte Melodie, als wir die neulich bei einem Konzert in Neapel als Zugabe gespielt haben, hatten wir alle das Gefühl, als ob hier die Zeit angehalten und mit Schönheit und Frieden gefüllt wird. Mehr kann Musik doch kaum leisten!«
Nach den Koloraturexplosionen von »Lava« hatte »Colori d’amore« ruhiger werden sollen. Weg vom Virtuosenzirkus des schneller, höher, weiter, hin zu edlen Gefühlen inniger Melodien. Das habe dann doch nicht ganz geklappt, räumt Kermes ein – weil es auch diesmal eben nicht nur bei den langsamen Arien, sondern gerade bei den allerschwierigsten gefunkt hat. Bei Alessandro Scarlattis für den 18-jährigen Farinelli geschriebenes »Torbido, irato e nero« zum Beispiel, an dessen rekordverdächtig lange Koloraturenkette sich bislang schlichtweg noch kein moderner Sänger herangetraut hatte. Freilich: Trotz ihrer ’love affair’ mit Bononcini und Co – am liebsten gelebt hätte Simone Kermes nicht im Barock, sondern im wilden Deutschland der Weimarer Republik. Die dreißiger Jahre seien ihre Zeit, bekennt sie – neulich habe sie sogar ein Programm mit Weill, Eisler und Schulhoff gemacht. Sieht ganz so aus, als ob die nächste Milva aus Deutschland kommt.

Colori d´amore

Simone Kermes, Le Musiche Nove, Claudio Osele

Sony

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Jörg Königsdorf, 04.01.2014, RONDO Ausgabe 6 / 2010



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