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N° 1353
13. - 21.04.2024

nächste Aktualisierung
am 20.04.2024



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Haste Töne¿

Raoul Mörchen stellt Neuerscheinungen mit zeitgenössischer Musik vor.

Moment – Paul Hindemith, zeitgenössische Musik? Zugegeben, der gute Mann ist schon ein halbes Jahrhundert tot und seine Musik tatsächlich von gestern. Aber da unser werter klassischer Musikbetrieb kompositionsgeschichtlich von vorgestern ist und noch immer schwer schluckt an allem nach Strauss und Mahler, nehmen wir diese neue CD ausnahmsweise mal mit in diese Kolumne. Zumal sich Hindemiths »Plöner Musiktag« an einem heute wieder brandaktuellen Thema abrackert, an der Frage nämlich, wie man für neue Musik neue und vor allem junge Hörer gewinnen kann. Hindemiths Motto frei nach Brecht: »Musik machen ist besser als Musik hören.« Will sagen: Wer Kinder und Jugendliche an die Instrumente kriegt, hat schon halb gewonnen. Der »Plöner Musiktag« ist ein Klassiker moderner Musikpädagogik, gleichwohl hier erstmals gesamt eingespielt. Eine ganze Hundertschaft Berliner Schüler rekonstruiert unter der Leitung von Jobst Liebrecht den 20. Juni 1932 an einem Internat im Holsteinischen Städtchen Plön. Hindemith hatte für die Schule diesen Tag durchkomponiert, angefangen bei einer Morgenmusik über eine Tafelmusik bis zum Abendkonzert – alles einfach zu spielen und singen. Atmosphärisch zwischen Ritterspiel, Mackie Messer und protestantischem Kirchenlied, hat der Plöner Musiktag gerade aufgrund seiner Beschränkungen seinen Charme: eine Flaschenpost aus einer Zeit, in der der Schuh schon an ganz ähnlicher Stelle drückte wie heute. (Wergo/Note 1 WER 6728-2)

Ein weiter Sprung ist’s vom sachlichen Hindemith zum mystischen Hauke Harder. Hatte Hindemith die Kunst des Komponierens für ein erlernbares und nicht sonderlich geheimnisvolles Handwerk erklärt, erklärt Harder zur Musik gar nichts mehr, weil es für ihn da nichts zu erklären und verstehen gibt. Seine eigene Musik insistiert darauf, ganz und gar für sich wahrgenommen zu werden, als ein Klang-Zeit-Raum-Ereignis. Harders Helden heißen Morton Feldman, John Cage und Alvin Lucier, dessen Assistent er war und dessen Interesse an objektiver Wissenschaft er teilt. Harder ist nicht nur Komponist, sondern zugleich Physiker mit dem Fachgebiet »Molekular-Spektroskopie «. Darum vielleicht ist Harders Musik trotz ihrer Mystik im Grunde objektiv: Sie steht da, fern aller Dramatik und Rhetorik, allem Zierrat entkleidet bis auf ein paar Töne, Intervalle, Klänge, die sich vielfach wiederholen, im Kreise drehen, kleine Zellen bilden und so den Hörer mehr oder minder freundlich zwingen, den Fokus zu verengen, zu bündeln auf inwendige Qualitäten von Klang und seiner Bewegung. Das mag dem einen etwas penetrant scheinen, der andere aber wird so vielleicht manches entdecken können, was ihm bisher entging – zumal in der Veröffentlichung von Solo-, Duo- und Triostücken mit dem ausgesprochen intensiven Trio »Dahinden Kleeb Polisoidis«. (World Edition/Agentur Berliner Editionen WORLD ED0015)

Apropos Wiederholung: Die hat’s zur Zeit keinem so angetan wie dem Österreicher Bernhard Lang. In einer mittlerweile abgeschlossenen Werkreihe »Differenz/Wiederholung« hat Lang diesen Extrempol musikalischer Komposition bis ins Kleinste durchdekliniert und die Übergänge erforscht zwischen strikter Repetition und Veränderung, Variation, Fortschritt. Langs Interesse ist nichts zuletzt technologisch inspiriert, vom Sprung in der Schallplatte, den Loops der Sampler und von Computer-Programmen, die wie kleine Automaten musikalisches Material selbsttätig reproduzieren und weiter modellieren können. Auch in neueren Werken wie dem Liederzyklus »Die Sterne des Hungers« und »Monadologie VII« arbeitet es wie von selbst unter der Oberfläche, werden kleine Module aneinandergereiht und verschoben, herrscht ein Klima von irrer Geschäftigkeit und latentem Atemmangel. Dabei gerät auch Historisches ins Getriebe, bei den Liedern ist es Musik von Dufay, bei der »Monadologie VII« Schönbergs Zweite Kammersinfonie. Heute und gestern, Automation und Komposition bilden bei Lang ein dichtes Geflecht. Es zu entwirren ist ein gutes Stück Arbeit, die für den Hörer mit erheblichem Gewinn belohnt wird. Kairos/harmonia mundi KAI 0013092)

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Zum Schluss einer, dem vermutlich nichts so sehr gegen den Strich geht wie eben Wiederholung – Wolfgang Rihm. Rihm ist ein Phänomen: Wer regelmäßig Konzerte mit zeitgenössischer Musik besucht, läuft ihm ständig in die Arme, Rihm ist in jeder zweiten Jury, jedem dritten Gremium, er unterrichtet und berät, redet und debattiert und entscheidet überall, wo in der Szene Kompetenz, Unabhängigkeit und Autorität gefragt sind. Wie Rihm nebenbei auch noch so viel komponieren kann – unbegreiflich. Rihms Kreativität ist dabei fern jeder Methodik, sie vermeidet Routinen und Rezepte, sprudelt lieber frei und ungezügelt. »Verwandlung« ist eigentlich alles bei Rihm, im Besonderen aber der Titel einer bisher vierteiligen Reihe von Orchesterwerken: Das, was klingt, wird jeweils spontan und individuell entschieden, aus Instinkt für Drama und Proportion. Konstant immerhin Rihms expressiver Impuls, seine innere Nähe zur romantischen Tradition, die hörbar wird in vermeintlichen oder echten Zitaten, in vertrauten Orchesterfarben, in gut chiffrierbaren Gesten und Stimmungen. Dem neuen Zyklus schaut Mahler über die Schulter, Sibelius, hier und da auch Debussy, ganz sicher der frühe Schönberg. Die Gesamteinspielung durch das Radio-Sinfonie-Orchester Stuttgart empfiehlt sich daher gerade für Einsteiger. Denn Rihm, der Produktive, ist mehrheitsfähig. (Hänssler/Naxos 93.263)

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Raoul Mörchen, 04.01.2014, RONDO Ausgabe 6 / 2010



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