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N° 1354
20. - 26.04.2024

nächste Aktualisierung
am 27.04.2024



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Hörtest

Monteverdi: „Marienvesper“ (1610)

Faszinierend und voller Rätsel: Die Entstehung von Claudio Monteverdis „Vespro della Beata Vergine“ beginnt – mit einem klassischen Burn-out.

Kein Wunder: Claudio Monteverdi ist mit seinen Kräften völlig am Ende. Im Sommer 1608 erleidet er einen körperlichen Zusammenbruch und reist Hals über Kopf aus Mantua ab, zum Haus seines Vaters in Cremona, um Zuflucht zu suchen. Dem Kapellmeister am prunkliebenden Hof Herzog Vincenzo I. Gonzaga vergällen ständige persönliche Rückschläge den berufliche Erfolg. So erkrankt noch während der Proben zu seiner Oper „L’Orfeo“ seine Frau Claudia, eine der Hofsängerinnen, und stirbt kurz darauf.

Eile, Gott, mich zu erretten

Dass Monteverdi seiner Aufgabe am Hof der Gonzaga mit Fleiß und künstlerisch hohem Anspruch nachgeht, wird leider nicht gewürdigt. Schleppend nur bezahlt der Fürst seinen Chefmusiker. Im Sommer 1608, gleich nach den Feierlichkeiten, bricht er unter der nie enden wollenden Arbeitslast, dem schwülen Klima im überhitzten Flusstal Mantuas und den demütigenden Verhältnissen zusammen. Sein Vater, ein Arzt, fleht brieflich zum Herzog, doch Vincenzo I. will davon nichts hören. Also muss Monteverdi einen anderen Plan fassen, die Stelle in Mantua so schnell wie möglich hinter sich zu lassen.
1610 erscheint beim Venezianer Ricciardo Amadino ein Druck geistlicher Musik, der es in sich hat. Er ist Papst Paul V. gewidmet und enthält eine Messe und eine mehrstimmige Vesper. Nur das Titelblatt der Generalbassstimme spricht dabei explizit von einer Marienvesper, einer „Vespro della Beata Vergine“. Die Ende des Jahres nach Rom unternommene Reise, die vielleicht von der Widmung geschickt vorbereitet werden sollte, verläuft hingegen enttäuschend. Monteverdi erhält keine Stelle im Vatikan. Dafür ist man in Venedig aufmerksam geworden: Die drei Jahre später frei gewordene Stelle an San Marco erhält der Komponist einstimmig, so sehr ist das Domkapitel nach der vor Ort musizierten Kostprobe überzeugt. Es wird eine Anstellung auf Lebenszeit – Mantua, adé!

Meine Seele erhebet den Herrn

Kaum ein Werk hat Forschern und Musikern mehr Nüsse zu knacken gegeben, als diese größte „Leistungsschau“ geistlicher Musik vor Bachs h-Moll-Messe. Angesiedelt in der Umbruchzeit zwischen Renaissance und Barock ist die Vesper aufregend neu und doch der Tradition verpflichtet. So liegt den Psalmen zwar stets die Melodie der traditionellen Psalmtöne zugrunde. Doch zwingt sie Monteverdi unter das Geflecht seiner ausgeklügelten Mehrstimmigkeit: Die einzelnen Verse balancieren über diesem Fundament wie Variationssätze, wobei sie die Schwierigkeiten und Festlegungen durch die Vorlagen so virtuos leugnen, als wären sie organisch mit ihnen entstanden.
Kontrastiert werden die Psalmen von geistlichen Konzerten, die die Stelle der wiederholten gregorianischen Wechselgesänge reizvoll ersetzen konnten. Doch gerade eines der Konzerte, „Duo Seraphim“, verweist mit seinem echogesättigten Lobpreis der Dreifaltigkeit nicht auf Maria, sondern Barbara, die Schutzheilige Mantuas (wo die Vesper größtenteils auch entstanden, vielleicht sogar aufgeführt worden sein dürfte). Ist Monteverdis Werk im Kern also vielmehr eine „Barbara-Vesper“?
Vielleicht nicht einmal das. Mit ihren Dimensionen hätte sie ohnehin jeden liturgischen Rahmen gesprengt. Damals wurden Vespermusiken traditionell mit Werken unterschiedlichster Komponisten bestückt. Laut Titelblatt ist diese Musik zudem „gleichermaßen für die Kapelle wie auch das Gemach eines Fürsten geeignet“, also auch zur Mediation (aristokratischer) Musikkenner. Warum auch nicht? Die glühende Mystik, in deren Dienst Monteverdi seine Musik stellt, lässt sich in jedem Kontext „er-hören“.

Maria vs. Barbara

Bei kaum einem anderen Werk gibt es vorab so viele Fragen durch die Ausführenden zu klären, wie in Monteverdis Vesper. Zuoberst steht die ungeklärte Werkstruktur, die Varianten in der Abfolge der Motetten und Concerti erlaubt. Puristen wie Parrot, Alessandrini und Kuijken entgehen allen Diskussionen und präsentieren die Musik in der Reihenfolge des Druckes. Angelehnt an die Liturgie mit Antiphonen musizieren Breiding, Jacobs, Herreweghe und Savall. Suzuki, Alessandrini und King haben beide Magnificat-Versionen aufgenommen (also auch die a capella-Alternative), Suzuki stellt als einziger der Vesper auch die Messe gegenüber – ein Vergleich, der sich lohnt! Die ausbalancierte Polyphonie öffnet die Ohren für den konzertanten Furor. Am weitesten in Richtung liturgischer Einrichtung gehen Parrot und McCreesh, die die Reihenfolge um die Psalmen konzerherum ändern. McCreesh fügt zusätzlich Orgelimprovisationen und Instrumentalwerke ein.
Der alte Streit um die solistische Besetzung chorischer Werke macht auch bei der Vesper nicht halt. Inzwischen hat sich durchgesetzt, den großen Chor auf wenige Stellen zu beschränken, während Solisten die rhythmisch vertrackten Passagen der Verse weit überzeugender bewältigen.
René Jacobs hingegen arbeitete mit diesem Kontrast die Vesper fast zu einem Oratorium aus, so stark ist die Rolle des Chores. Die Solisten, darunter der ungemein edel timbrierte Bariton Victor Torres kommen in dieser Klangdramaturgie zur Geltung wie Juwelen auf dem Sammetkissen. Auch Masaaki Suzuki und Robert King lassen den vollen Chor in den Psalmen von der Leine, weniger raffiniert als Jacobs, aber mit erstaunlich wenig Abstrich in der Beweglichkeit. Beschwingte, rhythmisch pointierte Einspielungen – und doch Antipoden: bebende, „italienische“ Stimmen bei King, vibratoarme „englische“ Stimmen bei Suzuki. Welch Ironie! Suzukis Chor ist zudem doch ein paar Stufen disziplinierter. Darin überflügelt er leichtfüßig Philippe Herreweghe, dessen frühe Einspielung durch den omnipräsenten Chor zähflüssig geraten ist und im instrumentalen Klangbild leicht an die Musik tschechischer Märchenfilme erinnert. Wie überraschend aktuell hat sich im Vergleich dazu Andrew Parrots Beitrag erhalten, nach knapp dreißig Jahren – eine visionäre Aufnahme.
Manche Einspielungen verfolgen mit geringer Besetzung entweder die Idee einer von Liturgie unabhängigen konzertanten Version (Pluhar), bzw. einer Aufführung in der herzoglichen Barbara-Basilika (Savall, McCreesh), die mit weit geringeren Kräften ausgestattet war als Venedig. Jordi Savall hat sich sogar die Mühe gemacht, die Vesper in der Mantuaner Hofkapelle einzuspielen, bei unchristlichen Minusgraden. Das Ergebnis ist ungemein überzeugend, vor allem weil Savall den vollen Chor nur sparsam einsetzt und so seine Solisten in den Psalmen Beinfreiheit haben für einen federnden, atmenden Vortrag. Selbiges gilt für Paul McCreesh, der den Chor unter Verweis auf Mantua komplett solistisch hält. Seine Lesart zeichnet sich durch flüssige Tempi in den Psalmen, große Innerlichkeit in den langsamen Concerti, die liturgische Umgestaltung und – nicht zu vernachlässigen – eine sehr klangschöne und präsente Continuo- orgel aus. Einziger Wermutstropfen: der zu säuerlicher Färbung neigende zweite Sopran. Schade. Der Sopran ist es auch, der die Einspielung von Jean- Claude Malgoire völlig verdirbt, weinerlich und wimmernd – Finger weg! Dass ein Knabenchor heute weitaus diszipliniertere Aufnahmen schaffen kann, als 1981 bei Malgoire, beweist Jörg Breiding mit seinen Hannoveranern. Der leicht unscharfe Knabenchorklang bleibt aber Geschmackssache.
Eindeutig handverlesen ist das Ensemble von Rinaldo Alessandrini. Seine ebenfalls rein solistische Vesper erreicht dadurch Momente von berührender Schönheit im Ensemble, doch wirken manche der häufigen Tempuswechsel von zwei- auf dreitaktig oder das „Laudate Pueri“ merkwürdig durchbuchstabiert. Da geht dann schon mal der ganze Schwung flöten. Den vermisst man leider auch über weite Strecken bei Roland Wilson, der die Psalmen zuweilen hölzern auf die Schwerpunkte setzt, statt tanzen zu lassen. Ein bisschen mehr Pfeffer hätte auch Altmeister Sigiswald Kuijken gut getan. Seine rein solistische, die Extreme meidende Version krankt zudem an schwammigen, unpräzisen Einsätzen der kleinen Schar (so im „Lauda Ierusalem“). Also kein Pulsbeschleuniger.
Den findet man in der Einspielung von Christina Pluhar, die sich von allen liturgischen Fesseln gelöst ganz auf die konzertante Textausdeutung und ihre Spezialität verlegt, das gesellige Harpfen und Zymbalen. Man kann sich an ihrer Überfülle an Saiteninstrumenten sonst schnell mal satthören: Hier bringt sie ihre junge Sängerschar mit rasanten Tempi und geschärften Rhythmen dazu, einfach glutvoll zu singen.

Auf venezianischer Höhe:

Jordi Savall, Königliche Kapelle Katalonien

hm/Alia Vox

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René Jacobs, Concerto Vocale u.a.

harmonia mundi

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Masaaki Suzuki, Bach Collegium Japan

Klassik Center/BIS

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Christina Pluhar, L’Arpeggiata

EMI/Virgin

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Mantuaner Niveau:

Andrew Parrott, Taverner Consort, Choir & Players

EMI/Virgin

Konrad Junghänel, Cantus Cölln

Sony/dhm

Rinaldo Alessandrini, Concerto Italiano

Indigo/naïve

Paul McCreesh, Gabrieli Consort & Players

Universal/DG

Jörg Breiding, Knabenchor Hannover u.a.

Naxos/Rondeau

Po-Ebene:

Jean-Claude Malgoire, La Grande Écurie et la Chambre du Roy

Sony

Philippe Herreweghe, Collegium Vocale Gent u.a.

harmonia mundi

Sigiswald Kuijken, La Petite Bande

Codaex/Challenge

Roland Wilson, La Capella Ducale

Note 1/Panclassics

Carsten Hinrichs, 30.11.1999, RONDO Ausgabe 1 / 2013



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