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N° 1354
20. - 26.04.2024

nächste Aktualisierung
am 27.04.2024



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Die Kunst der Improvisation

Reif für Stehgreif

Improvisieren – ist das nicht nur etwas für Jazzmusiker? Durchaus nicht, wie Carsten Niemann weiß: Wagt man es, die Nase über den Rand der noch so historisch-kritischen Notenausgaben zu erheben, dann erkennt man: Der Musikalltag bis weit ins 19. Jahrhundert war voll von Improvisationen. Und es tut sich was: An den Hochschulen, auf Festivals und selbst auf CD feiert diese faszinierende Kunst fröhliche Urständ.

Wann haben Sie zuletzt einen Interpreten bei einem Kammermusikabend so richtig gut improvisieren gehört? Sie verstehen die Frage nicht? Improvisieren – ist das nicht nur etwas für Jazzmusiker? Und eigentlich wollen Sie, wenn Beethoven auf dem Programm steht, auch nur das hören, was Beethoven geschrieben hat? Nun ja – irgendwie haben Sie ja auch recht. Aber hören Sie doch mal, was Ferdinand Ries an einem Abend des Jahres 1804 bei der Aufführung von Beethovens Quintett op. 16 für Klavier und Bläser erlebte: »Im letzten Allegro ist einigemal ein Halt, ehe das Thema wieder anfängt, bei einem derselben fing Beethoven auf einmal an zu phantasieren, nahm das Rondo als Thema, und unterhielt sich und die Andern eine geraume Zeit, was bei den Begleitenden jedoch nicht der Fall war (…) Wirklich sah es possirlich aus, wenn diese Herren, die jeden Augenblick erwarteten, daß wieder angefangen werde, die Instrumente unaufhörlich an den Mund setzten, und dann ganz ruhig wieder abnahmen. Endlich war Beethoven befriedigt und fiel wieder ins Rondo ein. Die ganze Gesellschaft war entzückt.«
Ein Einzelfall? Beileibe nicht. Wagt man es, die Nase über den Rand der noch so historisch-kritischen Notenausgaben zu erheben, dann erkennt man: Die Tradition der klassischen Musik basiert nur zu einem Teil auf der Schriftkultur – der Musikalltag war voll von Improvisationen. Und das noch weit über Beethoven hinaus. Improvisationen waren auch nicht bloß Genies vorbehalten: Welcher Klavierschüler kennt und fürchtet nicht die Etüden des Beethovenschülers Carl Czerny? Wohl jeder! Aber welcher Klavierschüler wurde je ermutigt, auch Czernys »Systematische Anleitung zum Fantasieren auf dem Pianoforte« durchzuarbeiten? Kaum einer. Weil der Etüdenschreck dort etwas behauptet, das selbst Lehrern Angst einjagt: nämlich dass Improvisieren «für den Clavier-Spieler eine besondere Pflicht und Zierde« sei. Schon dieses Beispiel zeigt: Es liegt vor allem an der Ausbildung, dass man, von Organisten einmal abgesehen, unter Interpreten der klassischen Musik so wenig eigenschöpferischen Musikern begegnet. Ein Defizit, das auch der Musikpädagogikprofessor Wolfgang Rüdiger von der Schumann-Hochschule Düsseldorf beklagt. »Virtuosen, die nicht improvisieren können«, so wolle er das Problem einmal zuspitzen, »müssten für die Musik der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts als inkompetent bezeichnet werden. Unser Hochschulwesen hat aber diesen historisch zweifellos wichtigen Zweig der Musikausübung abgeschnitten.«

Improvisier-Experimente

Wobei sein Kollege Georg Andreas Sorge im 18. Jahrhundert noch viel ätzender über bloße Interpreten spottete: »Wenn sie aber auch nur wenige Tacte aus dem Kopffe machen sollen, so bricht ihnen der Angstschweiss aus. […] Sie sind wie die Nonne, die wohl den lateinischen Psalter herlieset oder singt, aber nichts davon verstehet.« Kein Wunder also, dass sich einige Musiker und auch Musikpädagogen nicht mehr damit abfinden wollen, dass klassische Musik eine tote Sprache sein soll: also eine Sprache, die man zwar liest, aber in der man keine aktiven Sätze mehr zu bilden lernt. Wobei der Vergleich mit der Sprache nach Meinung des Pianisten Robert Levin auch ein gutes Mittel gegen die Angst vor dem Improvisieren ist: »Wenn wir uns tagtäglich unterhalten«, ruft er seinen Kollegen zu, »dann machen wir nichts anderes, als improvisieren.« Warum dann nicht auch einen Schritt weitergehen und in einem Mozartkonzert eine Kadenz in der Sprache Mozarts improvisieren?« Kadenzen seien schließlich nicht bloß dazu da, dass der Interpret seine Virtuosität zu Schau stelle – wer das in den zehn Minuten zuvor nicht geschafft habe, könne das Ruder auch in der Kadenz nicht herumreißen. Worum es gehe, das sei, die eigene Erfindungsgabe unter Beweis zu stellen. Dass das Ergebnis besser sei als die Kadenzen, die Mozart meist zum Gebrauch für Amateure niederschrieb, könne er zwar nicht garantieren. Aber wenn er höre, wie sich bei seinen eigenen Auftritten zum finalen Eintritt des Orchesters die atemlose Spannung des Publikums hörbar löse, dann wisse er, dass sich das Risiko gelohnt habe.
Ein noch größeres Risiko ging die venezolanische Pianistin Gabriela Montero ein, als sie damit begann, in ihren Konzerten über Themen zu fantasieren, die sie sich vom Publikum zurufen ließ. Ihrem Ansehen als ernsthafter Interpretin klassischer Meisterwerke haben solche Wagnisse nicht geschadet – und warum auch? Schließlich pflegte schon Franz Liszt diese Form der direkten Kommunikation mit dem Publikum: »Jeder ist begierig zu hören, was der Künstler aus dem ihm gegebenen Thema machen werde. So oft es in einer neuen Form erscheint, freut sich der Geber der guten Wirkung (…) wie über eine Sache, die er persönlich beigetragen. So entsteht denn eine gemeinschaftliche Arbeit, eine Cisilierarbeit, mit welcher der Künstler die ihm anvertrauten Juwelen umgibt.«

Die Improvisation in der Alten Musik-Szene

Eine regelrechte Revolution in der Bewertung der Rolle von Improvisationen könnte sich aber in der Alte-Musik-Szene ereignen – wobei ausgerechnet die konservative Schweiz tonangebend zu sein scheint. So gibt es in Bern und in Lausanne mittlerweile sogar eigene Festivals der improvisierten Musik, in denen klassisch ausgebildete Musiker dominieren. Neuester Trend ist dabei die Wiederentdeckung der historischen Praxis der mehrstimmigen Improvisation über eine vorgegebene Melodie. Wie so etwas klingen kann, davon gibt seit Kurzem die CD »L’amour de moy« des vokal-instrumentalen Ensembles Obsidienne einen Eindruck (Abonnenten finden einen Track auf der RONDO-CD). Ihren Improvisationen stellen die Musiker komponierte Stücke von Renaissancemeistern wie Josquin und Compère gegenüber. Sie rücken dem Hörer dabei schlagartig ins Bewusstsein, dass viele Passagen, die wir der Arbeit der Komponisten zuschlagen, auch aus dem Stegreif von den Musikern hätten improvisiert werden können. Und weil die Interpreten die Formeln und Satzmodelle der Zeit so verinnerlicht haben, dass sie frei über sie verfügen können, kommen auch ihre Interpretationen komponierter Werke eine entscheidende Nuance spontaner daher.
Aufhorchen lässt auch, dass mit der Schola Cantorum Basiliensis eine der ältesten und renommiertesten Hochschulen für Alte Musik dazu übergegangen ist, die Improvisation in all ihren Facetten ins Zentrum der Ausbildung zu rücken. Doch auch bei den Kollegen von der Hochschule für Musik der Stadt Basel wird Improvisation großgeschrieben. Hier unterrichtet der Komponist und Bratschist Prof. Walter Fähndrich die Kunst der freien Improvisation sogar als reguläres Hauptfach. »Freie Improvisation ist eigentlich eine kompositorische Disziplin«, erklärt uns Fähndrich. Schließlich sei schon der erste Ton verbindlicher Teil dessen, was folge. Viele Musiker, die sich in ihrem Leben bisher nur mit klassischer Musik beschäftigt hätten, seien daher am Anfang erst einmal ratlos: »Was soll ich denn machen? «, fragten sie. Doch Vorgaben zu machen, sagt Fähndrich mit seiner beruhigenden Stimme, habe er sich schon vor 20 Jahren abgewöhnt.
Seine Aufgabe sei es, Hilfestellungen zu geben und ein eindeutiges musikalisches Klima herzustellen. Und Fragen zu stellen: »Warum vibrierst Du?«, möchte er beispielsweise von Studenten wissen, die unbewusst ihren mühsam erlernten großen schönen Ton spazieren führen. Und wenn er seine Schüler nach einer Improvisation dazu ermuntert, »genau das Gegenteil« von dem zu spielen, was sie zuvor versucht hätten, dann stößt er sie damit ganz von allein auf die vielleicht wichtigste Frage, um die es beim Improvisieren geht: »Was will ich?« Denn erst wer dies weiß, der ist auch in der Lage, sich die notwendigen Techniken zu erarbeiten – und nach harter Arbeit freie Improvisationen auch in gewöhnliche Konzertprogramme mit aufzunehmen. Wobei Fähndrich selbst erlebt hat, dass die Improvisationen dabei oft noch besser ankommen als die komponierten Werke: »Die Begeisterung rührt aber nicht daher, dass diese Musik ›besser‹ ist, sondern daher, dass das Publikum Zeuge des Entstehens von Musik wird.« Und das, könnte man hinzufügen, dürfte ruhig öfter passieren.

Carsten Niemann, 08.03.2014, RONDO Ausgabe 5 / 2009



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