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N° 1353
13. - 24.04.2024

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am 20.04.2024



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Mariusz Kwiecień

Bad Boy mit zartem Weltschmerz

Als Pubertierender wollte er Rockstar werden. Auch jetzt, 25 Jahre später, markiert er nicht gerade den Braven, jedenfalls nicht auf der Bühne, wo er mit Don Giovanni, Eugen Onegin, König Roger und (Donizettis) Enrico den Verführer par excellence gibt. Christoph Braun traf den ersten Bariton der New Yorker MET, den Polen Mariusz Kwiecień, bei Opernproben in München.

Schwarzer Henriquatre-Bart, dichtes Brusthaar, markanter Blick, fein gezeichnete Lippen, schwarze Lederjacke und enge Blue-Jeans: Mariusz Kwiecień pflegt durchaus – mit etwas Ironie – sein Bad-Boy-Image. Jedenfalls tritt der bald 40-Jährige einem zwischen den Proben zu Verdis »Don Carlos« in der Münchner Staatsoper so leger und sympathisch-einnehmend wie selbstbewusst entgegen.
Allein die Tatsache, dass er im Münchner Musentempel neben Jonas Kaufmann, Anja Harteros und René Pape Verdis vierstündigen Kraftakt stemmt, beweist: Kwiecień hat erreicht, was man als Opernstar nur erreichen kann. Auch wenn sein Name für Nicht-Polen kaum auszusprechen ist (ungefähr: »kviε‹tschεñj«) und meist zum »Quietschen« verballhornt wird, vor allem von Amerikanern. Der gebürtige Krakauer lacht darüber, weiß er doch, dass es die meisten Amerikaner einfacher lieben; und dass er den USA viel zu verdanken hat. Seit 15 Jahren lebt er in New York und nennt sich bei aller polnischen Heimatliebe einen Weltbürger – kein Wunder: Die steile Karriere von der Warschauer Musikhochschule über das New Yorker »Lindemann Young Artist Development Program« bis zur ersten MET -Riege führt ihn inzwischen nahezu jede Woche in eine andere Großstadt dieses Planeten. So dass ihm zwar mitunter seine Krakauer Familie mitsamt Haus und großem Garten fehlt; aber sein Arbeitsethos ist klar: In der ersten Lebenshälfte gilt es ranzuklotzen, damit man später das Leben genießen kann.
Apropos »einfaches« Amerika: Kwiecień hat auch nichts gegen die oft recht einfältigen MET -Inszenierungen, im Gegenteil – mit dem hirnlastigen Regietheater europäischer Provenienz kann er nichts anfangen. Geradeheraus will er es, mit großem Drama und Herz, ohne (viel) psychologischen oder gesellschaftskritischen Hintersinn.
Mit seiner sprichwörtlichen Bühnenlust verkörpert Kwiecień wie nur wenige andere den modernen Sängerschauspieler. Schön kostümiert auf der Bühne rumzustehen und mit gepflegtem Gesang dem Kulturbürgertum drei selbstzufriedene Unterhaltungsstunden zu bescheren – das ist nicht seine Sache. Sondern Singen mit Haut und Haar. Nur so kann seiner Meinung nach die alte Dame Oper überleben – heutzutage, da sie in einer omnipräsenten und lautstarken Medienwelt gegen TV, Internet und Kino konkurrieren muss. Da mag eine Stimme noch so perfekt sitzen und technisch ausfeilt sein: Wer heute ohne Persönlichkeit, ohne Charisma und ohne vollen Körpereinsatz singt, der langweilt. Und das sagt einer, der eine der schattierungsreichsten Bariton-Kehlen unserer Zeit hat.
So kommt auch sein erstes Solo-Album mit »slawischen Helden« daher: als hochemotionales, männlich-kraftvolles Statement. Slawische Bariton-Helden!? Sicher: Tschaikowskys Beiträge kennt man, allen voran »Eugen Onegin« (neben Mozarts »Don Giovanni« Kwiecieńs Paraderolle seit seinem Münchener Debut und seinem fulminanten Moskauer Bolschoi-Auftritt 2009), vielleicht noch die Arien von Borodin und Rimski-Korsakow. Und selbstverständlich – inzwischen – auch Szymanowskis »König Roger«, den Kwiecień zu Recht als Weltklasse-Beitrag seines Landes zur Opernliteratur wertet und dessen finalen Apollo-Hymnus er mit überwältigender Pracht anstimmt. Aber Stanisław Moniuszkos »Straszny Dwór«, Dvořáks »Selma sedlák« oder Smetanas »Cˇertova steˇna«?! Natürlich weiß auch Kwiecień bei seiner slawischen Opernmission um deren Qualitätsunterschiede, und dass Moniuszkos romantisch verklärter Patriotismus nicht für einen Spitzenplatz unter Europas Opernhimmel reicht. Doch den polnischen »z˙al«, den spezifisch osteuropäischen »Weltschmerz« all dieser Werke: Den präsentiert uns Kwiecień wie kein anderer. Es muss ja nicht immer der jugendliche Liebhaber und testosteronstrotzende Verführer sein.

Diverse

Slavic Heroes

Mariusz Kwiecień, Polnisches Radio-Sinfonieorchester, Łukasz Borowicz

harmonia mundi

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Christoph Braun, 30.11.1999, RONDO Ausgabe 1 / 2012



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