Mehr als Gebrauchsmusik
Filmmusik, das ist in der Klassik-Welt noch immer ein Label, dem der Makel des Zweitrangigen anhaftet. Gebrauchsmusik halt, so heißt es leichtfertig, sei eben nicht frei, sondern gebunden an die Logik bewegter Bilder und gemacht dafür, zu unterhalten und süffig auszumalen. Nicht nur historisch betrachtet, ist das Blödsinn, denn schließlich schrieben Musiker ganz früher ausschließlich Gebrauchsmusik, entweder zu geistlichen oder zu weltlichen Anlässen. Und Opern folgen schließlich bis heute mehr oder weniger stringent der Logik dessen, was auf der Bühne erzählt werden soll.
Der vor bald vier Jahren verstorbene Ennio Morricone war unbestritten ein Gigant der Filmmusik, sein ikonischer Soundtrack zu „Once upon a time in the West“ – (der deutsche Filmtitel „Spiel’ mir das Lied vom Tod“ ist zwar unsäglich, referiert aber dafür genau auf Morricones Musik) - frisst sich in den Gehörgang als Geniestreich zwischen Geräusch-Komposition, Katzenmusik und monumentaler Cinemascope-Symphonik: Jene quälende kleine Sekunde der Mundharmonika, die ineinander verschliffenen Töne einer nicht aufzulösenden Dissonanz, die sich immer weiter wälzt und deren Rätsel - auch das des minimalen Tonumfangs – sich erst im finalen Showdown des Films auf grausamst mögliche Weise lösen. Ein dramaturgischer Coup sondergleichen, und ein musikalisches Meisterwerk, das gar nicht so klammheimlich Gedankengut und Stilmittel der Avantgarde des mittleren 20. Jahrhunderts in den Soundtrack hineinschmuggelt.
Morricone war Workoholic, für etwa 500 Film- und Fernsehproduktionen lieferte er die Soundtracks. Was bis heute wenig bekannt ist: Er hinterließ auch nahezu 200 Partituren absoluter Musik. Die Erben Morricones wollen diese Musik nun zugänglich machen und haben mit der Europäischen FilmPhilharmonie (EFPI) mit Sitz in Berlin eine Vereinbarung getroffen, Morricones Vermächtnis erstmals öffentlich zugänglich zu machen. Der EFPI wurde die Entwicklung und Auswertung von Konzertprogrammen und Musiksuiten aus dem riesigen Werk exklusiv anvertraut – die Rechte betreffen sowohl die Filmmusik als auch die absoluten Kompositionen.
Die EFPI hat bislang eher im Verborgenen gearbeitet, gleichwohl bienenfleißig und höchst seriös. Seit 2000 wurden unter der künstlerischen Leitung des Dirigenten Frank Strobel zahllose Produktionen mit Film und Musik realisiert. Dabei geht es um weit mehr als um vergleichsweise simple Aufführungen von Filmen mit live gespielter Filmmusik. Sondern vor allem um subtile Produktionen mit sinfonischer Filmmusik wie etwa „Chaplin in Concert – With a Smile“ am vergangenen Wochenende im Berliner Konzerthaus, ein mitreißender Zusammenschnitt, dramaturgisch perfekt synchronisiert zur live vom Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin unter Frank Strobel gespielten Musik, teils aus Chaplins eigener Feder.
Die Film- und Musikauswahl dieser Produktion besorgte Fernando Carmena von der EFPI. Am Sonntagmittag nach dem Konzert sitzt Carmena neben Giovanni Morricone, dem Sohn des Komponisten im Büro der EFPI. Morricone hat am Abend zuvor das Chaplin-Konzert gehört und erzählt, wie es zur Zusammenarbeit mit der EFPI kam: „Es war ein langer Prozess, wir trafen uns in New York und fingen an, uns kennenzulernen, als Menschen. Und was für uns wirklich wichtig war, war ihr großes Verständnis und ihre Sorgfalt, um seine künstlerische Vision in die Welt zu bringen. Das brachte uns zusammen.“
Giovanni Morricone liegt vor allem am Herzen, das bislang unbekannte Werk seines Vaters zu Gehör zu bringen und musikalisches Material zugänglich zu machen. Die Kompositionen absoluter Musik entstanden über seine gesamte Schaffenszeit, so Morricone: „Einige von ihnen schrieb er ohne Auftrag, einige schrieb er im Auftrag von Musikern, manchmal auch für Institutionen, zum Beispiel schrieb er eine „Kantate für Europa“, oder er schrieb eine „Missa“ für Papst Franziskus, mein Vater war katholisch … Mein Vater lebte mit der Musik als Sprache, um sich auszudrücken, für ihn war es ein physiologisches Bedürfnis, sich so auszudrücken. Manchmal mit Auftrag, manchmal ohne.“
Morricone Junior erinnert sich an die enorme Disziplin seines Vaters, der jeden Morgen um 5.30 Uhr aufstand und – mit Pausen – bis abends komponierte. Er berichtet von der avantgardistischen Seite seines Vaters als Mitglied der italienischen experimentellen Gruppe „Nuova Consonanza“, der die Darmstädter Ferienkurse besuchte und mit vielen Formen von musikalischer Sprache arbeitete. Er habe viel Kammermusik komponiert, aber auch eine Oper „Parthenope“, die noch immer auf ihre Uraufführung warte. Auf die Frage nach unerfüllten Träumen seines Vaters antwortet Morricone, dass es ihn wohl immer etwas bekümmert habe, in der Welt der Klassik nicht wirklich anerkannt gewesen zu sein.
Das wird sich nun möglicherweise ändern. Fernando Carmena arbeitet daran, er ist Kreativdirektor bei EFPI, studierte erst Kunstgeschichte mit Fokus auf Film und Musik, später dann Musik und kam zur EFPI, um dort in Kommunikation mit beauftragenden Orchestern thematische Programme zu erfinden.
Mit Morricones Film-Musik hatte er bereits vor der Begegnung mit der Familie Kontakt, aber es waren „nur Arrangements“, wie er sagt, „sie klangen nach Williams oder Mancini. Ich machte mich dann an Transkriptionen, aber das waren auch nur Transkriptionen, und dann kriegten wir einen netten Brief von Morricones Anwalt“.
Man war sich schnell einig, dass auch die EFPI nicht nur an den bekannten Film-Hits interessiert ist, sondern „wir wollten den unbekannten Morricone“. So kam es zu dem Deal. Carmena sieht eine enge Beziehung und Wechselwirkung zwischen beiden Welten in Morricones Musik: „Seine Filmmusik änderte sich, und seine absolute Musik änderte sich, aber sie haben sich oft getroffen. Zum Beispiel die Musik von „Novecento“, ein Film von Bernardo Bertolucci, eines der Stücke ist tatsächlich ein Rückblick auf ein Konzertstück aus den 1950er Jahren. Das Avantgarde-Vokabular findet man in seiner absoluten Musik, und das gleiche Vokabular findet man in vielen seiner Filmmusiken, die er in den späten 1960er und 1970er schrieb, da findet sich eine Menge aleatorischer Musik, Atonalität, Dissonanz, er verstand, dass es Musik jenseits der Noten gibt, das ganze Universum der Klänge, durchaus im Sinne von John Cage.“
Die EFPI arbeitet nicht an einer historisch-kritischen Edition der Werke Morricones, das wäre aufgrund der tausendfachen motivischen Vernetzungen zwischen beiden Welten eine aussichtslose Aufgabe - sondern vielmehr daran, seine Werke für den Konzertsaal zu erschließen. Für Fernando Carmena ist Ennio Morricone eine singuläre Erscheinung in der Musikwelt: „Anders als Komponisten seiner Generation, die für ihre Filmmusik bekannt wurden, wie etwa John Williams oder Leonard Bernstein, die ihre Wurzeln mehr in der mitteleuropäischen Spätromantik hatten, war Morricone ein Enzyklopädist der späten Renaissance und des frühen Barocks. Und dann war er ein Komponist des zeitgenössischen Stils, das ist in seiner DNA, und das macht ihn sehr einzigartig. Er hat diese Basis im Barock und der späten Renaissance und dann eben das Zeitgenössische.“
Regine Müller
Die Frage nach Macht und Verantwortung
2019 konnte Detlev Glanert an der Deutschen Oper Berlin seinen letzten Opernerfolg „Oceane“ feiern. Der versierte Musikdramatiker stellte gemeinsam mit seinem ebenso geübten Librettisten Hans-Ulrich Treichel einen neunzigminütigen Zweiakter vor, an dem alles total vertraut anmutete. Deren Oper hätte in ihrer publikumskonformen Wohlgefälligkeit, die keinerlei Fragen offenlässt und bestens unterhält, ohne irgendwie herauszufordern, auch vor fünfzig Jahren verfertigt worden sein. Was aber nicht gegen dieses „well-made play“ spricht. Eher für unseren Neokonservatismus.
Eine sehr lange Ahnengalerie stand Pate, die Opernmärchen-Wasser-Kindfrauen-Nixen-Geschichte hat hier nach Undine, Melusine, Rusalka, Melisande eine weitere Schwester bekommen. „Oceane von Perceval“, so heißt das kurze, sehr offene Fragment Theodor Fontanes, in dem auch er sich um 1882 dem damals modischen Stoff in Gestalt eines bürgerlichen Frauenschicksals zuwandte.
Passend zum 200. Geburtstag des Autors wurde damit ein kulturpolitisches Klassenziel erreicht. Diese „belle dame“ im kalten Glitzerkleid erscheint zu Saisonende in einem maroden Badehotel an der Ostsee. Keiner kennt sie, wenige mögen sie. Ein Baron verliebt sich in sie, ein bigotter Pastor verdammt sie. Die Verlobung platzt, die stumme Schöne tanzt wild, sprengt die Gesellschaft, verschwindet - ins Wasser?
So übersichtlich, wie das in sechs allzu knappen, kaum die Charaktere erahnen lassenden „Sommerstück für Musik“-Szenen angelegt war, so makellos flüssig durchlaufend das von Robert Carsen vor einem mal sanft, mal wild rollenden Videomeer als nostalgische Postkartenansichten schwarz-weiß-grau klar regielich angerichtet wurde – so klar und wirkungsdirekt war auch die schön ihre Möglichkeiten ausspielende, von Donald Runnicles orchestral aufgeschäumte Partitur.
In seinen anderen, erfolgreichen Musiktheaterwerken über Camus’ „Caligula“, Feuchtwangers „Jud Süß“ oder Lems „Solaris-Raumschiff“ hat sich Glanert weit mehr aus seiner Komfortzone locken lassen. Aber es hat schon seinen Grund, dass der 63-jährige, in Berlin lebende Hamburger als einer der erfolgreichen Opernkomponisten unserer Zeit gilt. Wie fein und gelassen er für Stimmen zu schreiben vermag, das hat Detlev Glanert auch letzten Juni in Leipzig unter Beweis gestellt. Da gab es nämlich mit dem Gewandhausorchester die Deutsche Erstaufführung seiner vierten, der „Prager Sinfonie“. Die verwendet Textfragmente von Frank Kafka, einem deutsch schreibenden Tschechen, bezieht sich aber musikalisch durchaus auf Glanerts Lehrer Hans Werner Henze, wie auf Gustav Mahler. Von letzterem hat sie den weltschmerzlich zerrissenen, dann wieder versöhnlich-liebevoll intimen Ton – und auch die Bauart.
Denn sie ähnelt durchaus dem „Lied von der Erde“. Hier singen allerdings ein Mezzosopran und ein Bariton, es sind 12 (ineinander fließende) statt sechs Nummern, und tönen beide lyrischen Ichs zunächst isoliert, so verschmelzen sie doch ab Lied Nummer Sieben, wechseln sich ab, offenbaren sich als ein – aufgespaltenes – Individuum mit widerstreitenden Gefühlen und multiplen Sensoren; schwankend zwischen depressiv, erschreckt, liebesbedürftig und sommereuphorisch. Diese Prager Sinfonie, als präzises wie bunt schillerndes, mit weitgehend konventionellen, nur schlagwerkerweitertem Instrumentarium tönendes 45-Minuten-Opus, sie wurde bestellt bei Glanert von dem ihm seit seiner Kölner WDR-Zeit sehr gewogenen, ihn oft programmierenden Semyon Bychkov und im Dezember 2022 im Rudolphinum uraufgeführt. Agiert Bychkov doch seit 2018 mit schönem Erfolg als 14. Chefdirigent der Tschechischen Philharmonie und kümmert sich dort nachhaltig auch um Zeitgenossenschaft.
Nun ist am 10. Februar das 14. Musiktheaterwerk Detlev Glanerts fällig. Wieder schrieb Treichel den Text, es inszeniert neuerlich Robert Carsen, wieder ist der Bariton Christoph Pohl (wie schon in Berlin) in einer zentralen Rolle dabei. Und wieder hat der Stoff etwas mit Lion Feuchtwanger zu tun. Der verfasste in den Fünfzigern einen Roman über eine alte Legende: „Die Jüdin von Toledo“, eine Geliebte, die zur Zeit der Reconquista dem spanischen König Alfons XIII. den Kopf verdreht haben soll. Für diese Rachel verließ er seine Frau, lebte sieben Monate im abgeschotteten Liebesglück, dann aber gewannen die politischen Kräfte wieder die Übermacht. Er ließ Rachel ermorden, verteidigte sein Königtum gegen die langsam nur zurückweichenden Mauren, wie gegen die lang schon gejagten Juden. Aus also der Traum von der gelebten Toleranz in einem Staat der mehrfachen Religionen.
Die Geschichte wurde schon von Lope de Vega dramatisiert, das Team lehnt sich jetzt an die Handlungsführung von Franz Grillparzers posthumer Tragödie von 1872 an; so ist ein dichter Fünfakter von zwei Stunden Dauer entstanden. Außer Pohl geben alle ihr Debüt an der Dresdner Semperoper. Und obwohl das Werk wegen der Pandemie um zwei Jahre verschoben wurde, könnte es mit seiner Thematik angesichts des Ukraine- wie des Gaza-Krieges, der Frage nach Macht und Verantwortung, Ego und Milde, Ehe und freier Liebe kaum aktueller sein.
Glanert vergleicht Oper mit einer komplizierten Architektur und bekennt sich zur künstlerischen Zusammenarbeit auf Augenhöhe: „Ich bin ein Teamworker, ich kann mir Oper anders gar nicht vorstellen.“ Oper sei eine zusammengesetzte Kunst aus Wort, Bild, Musik und manchmal auch Tanz. „Das ist eine wunderbare Erfindung, die auf Teamfähigkeit geradezu angewiesen ist. Mir gefällt es, mit anderen zusammenzuarbeiten, gute Ideen anderer einfließen zu lassen.“
In Dresden dirigiert Jonathan Darlington die Staatskapelle. Es singen Heidi Stober (Rahel), Lilly Jørstad (Ester), Christoph Pohl (Alfonso VIII., König von Kastilien), Tanja Ariane Baumgartner (Eleonore von England, dessen Gemahlin), Markus Marquardt (Manrique, Graf von Lara), Aaron Pegram (Don Garceran, dessen Sohn). Und Nassib Ahmadieh zupft die Oud, das allgegenwärtige Saiteninstrument der persischen und arabischen Musik, das im 9. Jahrhundert von den Mauren nach Andalusien und somit nach Europa gebracht wurde. Denn in Glanerts Partitur spielt es eine besonders atmosphärische Rolle.
Manuel Brug
Premiere: 10. Februar
Fotos: Ludwig Olah
„So wie Kafkas ,Schloss‘, aber ohne die lustigen Stellen“
Philippe Claudel gilt als einer der bedeutenden französischen Gegenwartsautoren und gewann 2007 mit seinem Roman „Brodecks Bericht“ unter anderem den wichtigsten französischen Literaturpreis, den Prix Goncourt. Mit seiner Romanparabel lieferte er Ende der Nullerjahre ein stilleres Gegenstück zu Jonathan Littells heftig diskutiertem und schockierendem Roman „Die Wohlgesinnten“.
In „Brodecks Bericht“ erzählt Claudel vielstimmig und raffiniert zwischen Zeitebenen und Erzählsträngen wechselnd die Geschichte eines Bergdorfes an der deutsch-französischen Grenze in der Zeit nach dem „großen Krieg“. Dorfchronist Brodeck, der für eine Behörde Berichte verfasst, kommt abends ins Dorfwirtshaus, wo die Männer „den Anderen“ abgeschlachtet haben, einen im Ort abgestiegenen Maler, der nicht hergehörte und mit seinem Schweigen für die sturen Dörfler offenbar zur Bedrohung wurde: „Dieser Mann war wie ein Spiegel … er sagte nichts, man sah nur sich selbst in ihm“, heißt es im Roman.
Brodeck, der bei dem Mord nicht dabei war, soll nun im Sinne des Dorfes alles dokumentieren, wohlgemerkt im Sinne des Dorfes. Wovon jedoch das Dorf und auch seine Familie nichts ahnt, ist, dass Brodeck schon seit geraumer Zeit an einem anderen Bericht arbeitet. Dieser eigene Bericht erzählt von seinem Leben und den Gräueltaten, denen auch seine seitdem nur noch singende und summende Frau Emélia zum Opfer fiel.
„Brodecks Bericht“ kam 2009 auf Deutsch heraus, Manu Larcenet schuf nach Claudels Vorlage 2017 eine viel beachtete Graphic Novel, die der „Spiegel“-Rezensent Timur Vermes (Autor des Romans „Er ist wieder da“) auf die knappe Formel brachte: „So wie Kafkas ,Schloss‘, aber ohne die lustigen Stellen.“ Der Stoff ist also harter Tobak, vor allem die Graphic Novel-Version inspirierte den belgischen Komponisten Daan Jannssens für seine dritte Oper, die nun als Auftragskomposition bei Opera Ballet Vlaanderen zur Uraufführung kommt. Das Libretto von Daan Janssens und Fabrice Murgia, der auch die Inszenierung besorgt, schließt eng an das Buch an. Murgia und Janssens kennen sich von früherer Zusammenarbeit an Janssens’ Kammeroper „Menuet“. Der Regisseur ist berüchtigt für seinen stark visuell ausgerichteten Stil, am Pult wird mit der Schwedin Marit Strindlund eine in Sachen Neutöner erfahrene Dirigentin stehen.
Komponist Daan Janssens wurde 1983 in Brügge geboren, studierte Geige, Klavier, Musiktheorie, Komposition und weitere Fächer am Brügger Musikkonservatorium. Dort erhielt er auch ersten Kompositionsunterricht bei Octaaf Van Geert, später studierte er am Genter Konservatorium bei Frank Nuyts und besuchte internationale Kompositionsseminare und Meisterkurse bei Peter Eötvös, Luca Francesconi, Magnus Lindberg und Bruno Mantovani. Seit 2008 arbeitet Janssens mit LOD, einem Musiktheaterproduktionshaus mit Sitz in Gent zusammen, dort kam 2012 „Les Aveugles“, eine erste Kammeroper nach Maurice Maeterlinck zur Uraufführung.
„Brodeck“ ist nun die dritte Oper aus Janssens‘ Feder, sein Stil wird als suggestiv und spannungsgeladen beschrieben. Janssens' Interesse an Klangfarben sowie die suggestiven französischen Titel, die er vielen seiner Kompositionen stets gibt, verweisen auf den starken Einfluss der französischen Musik des 20. Jahrhunderts, von Debussy über Boulez bis hin zur Spektralmusik. Als wichtige Inspirationsquellen nennt Janssens aber auch Ligeti und Lachenmann, überhaupt baut er ganz bewusst auf die jüngere westeuropäische Moderne auf. In seiner ersten Oper „Les Aveugles“ folgte Janssens gar der Tradition Wagners und der Oper des 19. Jahrhunderts, indem er sich auf ein dreitöniges Leitmotiv stützte.
„Brodeck“ orientiert sich erneut an Wagner, wie Janssens in einem Interview beschreibt: „Die Partitur ist etwas wagnerianisch geworden: Ich habe verschiedene Motive entwickelt und den Figuren spezifische Instrumente zugewiesen. So habe ich beispielsweise Musik für den Krieg, unter dem das Dorf vor der Ankunft des Anderen zu leiden hatte, Musik für Brodecks Gefangenschaft in dieser Zeit, ein Thema für Brodecks Geliebte usw. Die Zuhörenden werden allmählich die Zusammenhänge entdecken, die helfen, der Chronologie der Geschichte zu folgen und den gewalttätigen Unterton gewisser Gespräche zu spüren. In der Oper befinden sich auch versteckte kleine Hinweise auf andere Opern. Ich bin davon überzeugt, dass die Musik den Opernfreunden gefallen wird. Sie ist sehr expressiv und lyrisch und enthält Opernelemente, mit denen bereits große Komponisten bewiesen haben, dass sie ihre Wirkung nicht verfehlen.“
Regine Müller
Premiere: 9.2. im Opernhaus Antwerpen
Fotos: Annemie-Augustijns
Eine afrikanische Oper der Achtsamen
Mozarts humanistische Parabel von der kaiserlichen Milde, gegenübergestellt heutigen Ungerechtigkeiten und Polit-Schmutzigkeiten, wohlfeil ausgestellt vom im linken Kunstbetrieb gut genährten Systemsprengern, das kam nicht zusammen. Aviel Cahn, der das Genre Musiktheater mit Wonnen an seine Grenzen und darüber hinaus fordern wollende Intendant des Grand Théâtre de Génève, hat sich 2021 beim spektakulären Engagement des Schweizer Politregisseurs Milo Rau für seine erste Oper mit „La clemenza di Tito“ keinen Gefallen getan.
Zu statisch, zu durchschaubar in seiner heutigen Ideologie lief das ab. Zumal es Rau selten um szenische Tiefenschärfe und ausgefeilte Personenregie geht. Ihm sind vor allem die Message und eine dramatische Zuspitzung, auch Simplifizierung seiner jeweiligen Stoffkomplexe wichtig.
Für ein zweites Opernprojekt hat Cahn jetzt Milo Rau innerhalb seiner professionellen Komfortzone werkeln lassen. Das große, lautstarke, aggressiv-einseitige Aktivistenspektakel ist es nicht geworden. Dafür eher eine leise Elegie über Hilflosigkeit und Vergeblichkeit, über die Grausamkeit bestehender Verhältnisse neokolonialer Ausbeutung in der Demokratischen Republik Kongo – immer noch. Für die Uraufführung „Justice“ hat er Rau mit dem versatilen katalanischen Komponisten Hèctor Parra zusammengespannt.
Und wieder einmal hat Milo Rau seine Kongo-Recherchen eingebracht, und auch Teile des kreativen Personals, um eine typische, gar nicht mal besondere, gar metaphorisch aufgeladene Geschichte aus diesem reichen, aber brutal von den Europäern selbst nach Abzug der grausamen belgischen Kolonialisten und dem Sturz des nicht weniger schlimmer Mobutu-Regimes, inzwischen auch von Chinesen und Amerikanern ausgebeuteten Land zu erzählen.
Es geht um einen Lastwagen voller Schwefelsäure zum Auflösen von Erzen, der 2019 in einem Dorf in Katanga, dem größten Minengebiet der Welt umgestürzt ist. Durch den Unfall wie die auslaufende Säure kamen 21 Menschen ums Leben, viele weitere wurden verletzt. Die verantwortliche Schweizer Firma Glencore zahlte den Überlebenden fünf Monatsraten Lebensmittelrationen, die Prozesse sind immer noch nicht abgeschlossen.
So soll mittels dieses Musiktheaters auf eine einzelne, konkrete Ungerechtigkeit von vielen aufmerksam gemacht, der Fokus auf die Missstände im eigentlich blühen könnenden Zentralafrika gelenkt werden. Bei der Pressekonferenz vor der Uraufführung waren auch zwei Beteiligte vor Ort in im Kongo zugeschaltet; außerdem wurde die Gründung einer Crowdfunding-Kampagne „Justice for Kabwe!“ bekannt gegeben.
Für eine meist erstaunlich zart gesponnene Elegie aus Prolog und fünf Akten, die gerade einmal 140 pausenlose Minuten dauert, haben sich jetzt neben Rau und Pàrra als Stimmen wie Seelen des Kongo der aus Katanga stammende, in Graz lehrende Schriftsteller Fiston Mwanza Mujila, der das Libretto geschrieben hat und auch auf der Bühne steht, der sanfte, kongolesische Rumba virtuos auf seiner E-Gitarre plingelnde Musiker Kojack Kossakamvwe sowie der Countertenor Serge Kakudij, der einen Jungen ohne Beine verkörpert, zusammengefunden.
Rau kuratiert eher unprätentiös als dass er inszeniert. Und der sonst viel komplexere Klanglandschaften formende Pàrra lässt dem links sitzenden Solo-Gitarristen für seine Einwürfe Raum, hat sich an perkussiv dominierten kongolesischen Rhythmen wie Gesängen orientiert, verwebt sie auf einfache Art mit seiner Klangsprache. Die ist nur selten laut, bindet das Orchestre de la Suisse Romande wie den Opernchor gekonnt ein. Meist tändelt die Musik erstaunlich harmonisch zirpend flott dahin, um das Erzähltempo im Fluss zu halten.
Als Bühnensituation wird heute, fünf Jahre nach dem Unfall, die Einweihung einer Schule gewählt: Rechts sitzen die stummen Honoratioren an einer Banketttafel, doch neben und hinter ihnen liegt immer noch der kaputte Laster auf dem Rücken, Unrat breitet sich aus, die Vergangenheit lässt genauso wenig vertreiben wie die hier allgegenwärtigen Geister der Ahnen. Alle das wird – während Filmaufnahmen die Landschaft, die Toten, die Trümmer aus nächster Nähe zeigen – ausgebreitet und reflektiert, vom neuen Direktorenpaar (Peter Tantsits, Idunnu Münch), der Lastwagenchauffeurin (Katarina Bardic), dem alten und jungen Priester (Willard White, Simin Shibamu), der Mutter eines toten Kindes (Axelle Fanyo), einer Anwältin Lauren Michele).
Sie alle, von Titus Engel temperamentvoll dirigiert, singen, deklamieren, flüstern, parlieren ihrer Rollen mit größter Präsenz, Stärke, Vielfalt und Aufmerksamkeit. Die Geschichte entfaltetet sich ruhig in Einzelschicksalen, Schmerz und Trauer schafft sich Raum, Verlust und Ungerechtigkeit wollen gesühnt werden. Und so wird aus dem eher braven Dokumenta-Narrativ gerade in den individuellen Ariosi überzeugt Oper – als Kraftwerk der großen Gefühle. Mit ein wenig Gutmenschenkitsch.
Manuel Brug
Fotos: Carole Parodi
Märchenhafte Künstlichkeit und ein steppender Bär
Lenny ist derzeit allgegenwärtig: Das Biopic „Maestro“, in dem wenig von seiner eigenen Musik vorkommt, läuft seit Wochen in den Kinos. Und in Wien gibt es ohne den Anlass eines Jahrestags gerade eine geballte Bernstein-Ladung: Lydia Steier brachte am Mittwoch sein Schmerzenskind „Candide“ im Museumsquartier für das MusikTheater an der Wien heraus, Lotte de Beer folgt am kommenden Samstag mit der unverwüstlichen „West Side Story“.
„Candide“ konnte zu vergleichbarer Beliebtheit nicht annähernd vorstoßen, im Gegenteil, die Uraufführung 1956 in New York war ein Flop. Bernsteins „comic Operetta“ ist ein vielfach umgearbeitetes Opus und läuft heute gemeinhin unter dem Label Musical. Tatsächlich verquirlt Bernstein hier Vaudeville, Broadway-Show, Comedy und Opern-Parodie zu einem ganz eigenen Cocktail.
„Candide“ erzählt die schräge Geschichte des einfach gestrickten Titelhelden, der eine gewisse Cunegonde liebt, die im Krieg verschleppt wird. Auf der Suche nach der Liebsten reist Candide quer durch die Welt und erlebt Reichtum und Dekadenz, Inquisition, Pest und Syphilis. Kein Geringerer als Voltaire lieferte mit „Candide oder der Optimismus“ die Vorlage, der satirische Roman richtete sich gegen den deutschen Philosophen Leibniz und dessen Postulat, dass wir in der besten aller möglichen Welten leben. Er reflektierte damit die Erfahrungen des Siebenjährigen Krieges und des verheerenden Erdbebens, das 1755 Lissabon dem Erdboden gleich machte und arbeitete sich mit scharfer Feder an Adel, Kirche und der Inquisition ab.
Bernstein und die Dramatikerin Lilian Hellman, die das Buch schrieb, empfanden im politischen Klima der McCarthy-Ära Voltaires Kritik als höchst aktuell und verstanden „Candide“ als künstlerische Abrechnung mit dieser Zeit.
Stefan Herheim, Intendant des MusikTheaters an der Wien, hat nun in der Ausweichspielstätte im Wiener Museumsquartier der gehypten Regisseurin Lydia Steier das komplizierte Werk anvertraut, über das Loriot einst befand, das Musical sei „das einzige seiner Art, dessen genaue Inhaltsangabe – rasch vorgetragen – ebenso lange dauert wie das Musical selbst“.
Gespielt wird die Konzert-Version in szenischer Einrichtung, mit etlichen Ergänzungen und neuen musikalischen Übergängen. Der entscheidende dramaturgische Kniff der heftig akklamierten Wiener Neuproduktion ist die Einführung eines Erzählers (maliziös, mit grandios zelebrierter Conférencier-Distanz: Vincent Glander), der die gesprochenen Dialoge ersetzt und so für Verfremdung und slapstickhafte Verkürzung der aberwitzigen Handlung sorgt. Gesungen und gesprochen wird auf Englisch, was der Sache keinen Abbruch tut, da Glander ausgezeichnet artikuliert.
Ausstatter Momme Hinrichs, der auch für die Videos verantwortlich zeichnet, hat eine Revue-Bühne mit Showtreppe gebaut, die sich mit bis zu vier hintereinander gesetzten, mit Glühbirnen besetzten Portalen auftut. Puppentheater und märchenhafte Künstlichkeit sind Trumpf, die Kostüme von Ursula Kudrna springen von der Goethe-Zeit über Vaudeville- und Commedia dell’arte-Anleihen und Hollywood-Revue-Ästhetik bis in die Trash-Opulenz der frühen 2000er Jahre. Über 300 Kostüme wurden genäht, neben einer Fülle von Solisten wuseln der Arnold Schoenberg Chor – wie immer famos! –sieben Tänzer und Statisten, darunter auch ein wild steppender Bär über die Bühne. Steier schießt Gags aus vollen Rohren, das Timing sitzt, das böse Libretto aus dem Geist des noch viel böseren Voltaire löst sich auf, in mit Flitter bekränzten, letztlich aber zu harmlos bleibenden Sarkasmus.
„Candide“ habe sie schon immer einmal machen wollen, gab Steier vorab in mehreren Interviews zu Protokoll, aber niemand habe sich getraut, erst Stefan Herheim habe zugegriffen. Als souveräne Organisatorin komplexer Stoffe wird Lydia Steier seit Jahren von großen Häusern und Festivals gebucht, weil sie es meistens schafft, eine ambitionierte Deutung zu formulieren, und zugleich die Kulinariker mit bilderreicher Opulenz bedient. „Candide“ bietet ihr nun ein Fest, ihr brillantes Handwerk auszustellen: Schlag auf Schlag prasseln die szenischen Einfälle, meistens genau entlang an Textbuch und Musik, selten eines von beiden konterkarierend. Das macht zumindest in der ersten Hälfte des Abends enormen Spaß, nach der Pause ist jedoch ein wenig die Luft raus, zumal das Stück an sich dann in ermüdender Repetition schwächer wird. Man vermisst zunehmend so etwas wie eine kritische Brechung, ein ernstes Moment, das den Anschluss findet zur Gegenwart. Doch diesen Sprung wagt Steier nicht, stattdessen zelebriert sie das treuherzige, sehr amerikanische Finale, wenn Candide sich auf das einfache Leben besinnt und ein Bäumchen sät, ganz ungebrochen naiv.
Musikalisch ist der Abend erstklassig, mit Marin Alsop, der Chefin des ORF Radio-Symphonieorchesters Wien, steht eine ausgewiesene Bernstein-Expertin am Pult, der Maestro war ihr ein wichtiger Mentor. Die berühmte Ouvertüre geht Alsop zackig an, das Parodistische der Musik erinnert in ihrer Lesart fast an die grimassierenden Partituren Schostakowitschs, aber alsbald swingt sie sich doch ein in einen süffigen Musical-Groove. Aus der Fülle der Solisten (die teils mehrere Rollen verkörpern) ragen heraus: Matthew Newlin in der Titelrolle, der Candides Naivität mit rund und weich timbriertem Tenor beglaubigt, ohne sie zu denunzieren, Nicola Hillebrands heller Cunegonde-Sopran imponiert mit furchtlos angepeilten Höhen und risikobereiter Spielfreude, Ben McAteer ist ein sonorer Dr. Pangloss, Helene Schneiderman eine markante, gar nicht alt klingende Old Lady. Großer Jubel im Museumsquartier, die Produktion dürfte ein Renner werden. Ob Lotte de Beer das toppen kann?
Regine Müller
Fotos: Werner Kmetitsch