Winter & Winter/Edel 910 128-2
(155 Min., 1965 - 1978) 2, 1 CDs, 2 CDs, 1 DVD
Die Frage nach der Authentizität und den damit verbundenen Grenzen und Mauern in unseren Köpfen hat Mauricio Kagel in seinem riesigen Schaffen immer wieder aufgeworfen. Seitdem er 1957 seine argentinische Heimat verlassen und sich dauerhaft in Köln niedergelassen hat, stehen so bei ihm Ideologien, Manifeste, Dogmen auf dem Prüfstand. Ob nun der Serialismus, mit dem er in der heißen Phase der Avantgarde Ende der 1950er Jahre abrechnete, oder die Mode der historischen Aufführungspraxis, die er mit seiner "Kammermusik für Renaissancemusik" aufs Korn nahm. Doch Kagels ernsthafte Eulenspiegelfechtereien zielen nicht nur auf den Musikbetrieb mitsamt seinen Ritualen. Wie kein Zweiter hat er jenseits der absoluten Musik Zweifel am scheinbar einzig richtigen Standpunkt im richtigen Leben geschürt, indem er ständig die Perspektiven verschob. Dieser musikalische Querfeldein-Denker, Fallensteller und Impulsgeber für das, was sein amerikanischer Freund und Kollege John Cage einmal mit "Happy New Ears" bezeichnet hat, feiert nun am 24. Dezember seinen 75. Geburtstag. Und noch bevor die Feuilletons sich mit Kagels spielerischem Unruhezustand ausführlich beschäftigen werden, gibt es vorab schon mal ein auf 3.000 Kopien limitiertes Präsent aus zwei CDs und einer DVD, das entlang von historischen Aufnahmen auf einen Schlag den Interpreten, Komponisten, Hörspiel-Pionier und Filmemacher porträtiert.
Dass Mauricio Kagel ab den 1960er Jahren sich zu einem polyglotten Klangarchäologen und -erfinder mauserte, der traditionelle Formen und Spielarten mit seinem typisch humoristischen Augenzwinkern einer Neubelichtung unterzog, ist auf der ersten CD "Kagel Plays and Sings" dokumentiert. Das Bandoneon als klischeebehaftetes Organ für melancholische Tango-Stunden wird in "Pandorasbox/Bandoneonpiece" zu einem schauerlichen Ebenbild von Orgelbrausen und schauerlichen Luftverwirbelungen, ist der "Tango Alemán" eine musiktheatralische Köstlichkeit, Parodie und Abrechnung zugleich. Für das "Bestiarium" (1974/75) hingegen bewaffnete Kagel sich und zwei Spielpartner mit exotischen Lockpfeifen, um das Aufnahmestudio in einen ornithologisch kunterbunten Dschungel zu verwandeln. Die Klangerforschung jenseits des handelsüblichen Instrumentariums, aber auch über die Grenzen von Gattungen hinweg, wurde so zu einem Motor, der auch das klassische Hörspiel aus den Angeln heben sollte. Wie 1969, als Kagel für die bedeutende Hörspielreihe "Ars Acustica" des Kölner WDR das "(Hörspiel) Ein Aufnahmezustand" konzipierte, in dem er aus dem Produktionsprozess von isoliert aufgenommenen, instrumentalen und verbalen Aktionen ein radiophones Vexier- und Verwirrspiel collagierte. Neben der Tonträger-Premiere dieses maßstäbesetzenden Hörkunstwerkes ist der Film "Ludwig van" (1969) nun erstmals auch auf DVD zu sehen, mit dem Kagel 1970 den Beethoven-Kult aufs Korn nahm. In einer Mischung aus surrealer Heldenverehrung und dokumentarischer Aufarbeitung begleitete Kagel Beethoven anlässlich seines 200. Geburtstages durch Bonn. Immer flankiert von varietehaften Arrangements von berühmten Beethoven-Initialen und bis hinein sogar in das "Internationale Frühschoppen"-Studio Werner Höfers, in dem erst der dialektisch gestählte Musiktheoretiker Heinz-Klaus Metzger ein adornoeskes Manifest über die falsche Beethoven-Interpretation vorträgt - bevor Kagel anmahnt, dass alle Jubiläumsfeiern überflüssig werden könnten, wenn man nur das richtige Verhältnis zum Komponisten besitzt. Den 75. Geburtstag von Mauricio Kagel sollte man trotzdem groß begehen.
Guido Fischer, 17.11.2006
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