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N° 1353
13. - 24.04.2024

nächste Aktualisierung
am 20.04.2024



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Pérotin u.a.

Dein Kuss von göttlicher Natur - Der Zeitgenosse Perotin

Hilliard Ensemble u.a.

Arthaus/Naxos 100 695
(380 Min.) DVD und CD

Organum, Discantus, Conductus, Modi, Mensuren - keine Sorge, hier soll kein Seminar zur Terminologie mittelalterlicher Musik das Gähnen lehren. Es sollen auch keine lateinischen Traktate aus finster-kalten Klöstern analysiert werden. Das kann Umberto Eco sehr viel besser. Er ließ bekanntlich auch die mittelalterlichen Kassen erstmals so richtig klingeln. Seither scheint das Mittelalter und seine Musik en vogue, wie den CD-Verkaufszahlen des Hilliard-Ensembles abzulesen ist (ganz zu schweigen vom Pseudomönchs-Kommerz der "Gregorians"). Der gestresste Wohlstandskonsument unserer Tage entspannt halt gern bei Gregorianik und Chianti und flüchtet sich, vielleicht auch als Gelegenheitskatholik oder Tourist, auf der Suche nach Ruhe (und Fotomotiven) in die gotischen Kathedralen, wo er sich zumindest für Minuten mit der göttlichen Ewigkeit eins weiß. Das Mittelalter also nur eine schicke Kurzzeitdroge ohne Substanz und Tiefgang?!
Wer sich mit Uli Aumüllers ebenso bildgewaltigem, lehrreichen wie provozierenden Dokumentarfilm auf die Reise ins 12. und 13. Jahrhundert begibt, der lässt schnell die Oberflächenberieselung hinter sich. Auf wahrhaft vielfältige, multimediale Weise nähert sich Aumüller seinem Thema, wobei schon äußerlich die Opulenz der sechseinhalbstündigen Box imponiert (die Bonus-DVD zur Konzeption des Films sollte man einführend vor dem eigentlichen, anderthalbstündigen Film goutieren; die Bonus-CD enthält alle vom Hilliard-Ensemble auf gewohnt makellose, intonationsreine Art eingespielten Film-Titel). Aumüller fragt nach tieferen Bezügen und Analogien des Mittelalters zu unserer Gegenwart. Der zunächst etwas obskur scheinende Titel: "Dein Kuss von göttlicher Natur - der Zeitgenosse Perotin" zeigt dies zumindest in seinem zweiten Teil, der uns das Mittelalter als "überraschend modern" in Gestalt Perotins vorstellt, jenes revolutionären Komponisten, der die Musikhistoriker vom höchst bedeutsamen "Ereignis Notre Dame" sprechen lässt.
Zwar weiß man kaum etwas über die Person dieses um die Wende vom 12. zum 13. Jahrhundert an der Pariser Kathedrale wirkenden so genannten "kleinen Petrus"; aber schon die unmittelbare Nachwelt verlieh ihm den Titel "Magnus". Schuf er doch etwas fundamental Neues, das die europäische Musikgeschichte im eigentlichen, individuell-schöpferischen Sinn erst begründete: musikalisch messbare Zeit in Gestalt von rhythmischen Zellen mit Notenwerten unterschiedlicher, aber vergleichbarer Dauer. Gab es vorher eine frei in Melismen improvisierte, dem Text bzw. Sprachduktus folgende Discantstimme über dem Gregorianischen Choral, so schafft Perotin erstmals Werke mit drei oder vier Stimmen, die gleichzeitig - damit sprachlich unverständlich - in verschiedenen Tonlagen und Geschwindigkeiten ablaufen. Diese planvoll zu koordinieren, ermöglichte die (universalhistorisch) einzigartige mönchische Rationalisierungsleistung der Mensuralnotation. Ihr verdanken wir die "Polyphonie" und den "Komponisten" im eigentlichen Sinn, mithin die abendländische Kunstmusik.
Es war wohl kaum Zufall, dass diese musikalische Zeit-Revolution einherging mit der Erfindung der mechanischen Uhr, die wiederum Ausdruck und gleichzeitig Ursache eines veränderten Zeitempfindens war: weg von der antiken Vorstellung eines zyklischen Zerrinnens von Zeit in natürlichen Tages-, Nacht- und Jahresrhythmen hin zur modernen, linearen, zielgerichteten und in kleinsten Einheiten messbaren Zeit. Die Analogie der neuen "Zeitmaschine", in der unterschiedlich schnell rotierende Rädchen koordiniert werden, zur Mensuralnotation ist evident, zumindest für Martin Burckhardt und Christian Kaden. Die beiden Kultur- bzw. Musiksoziologen lässt Aumüller mit den Perotin-Spezialisten Rudolf Flotzinger und Jürg Stenzl in einen spannenden Gelehrtendisput treten - selbstverständlich nicht in einem der heutigen hässlichen Universitätsbunker, sondern, wie es den Magistri ziemt, im Chorgestühl des Doms zu Schleswig.
Das provozierendste Anliegen des Films gilt der "Botschaft" der Musik, insbesondere der Marien-Gesänge, in denen Perotin - Ausdruck einer überbordenden Marienverehrung der Zeit - das Wunder der unbefleckten Empfängnis besingt. Maria bleibt Jungfrau und Gott behält seine Makellosigkeit, indem er Maria küsst und befruchtet ohne Berührung des Fleisches. Aber wie, so fragt Aumüller im Verbund mit Burckhardt, kommt Gott dazu, sich mit einem Menschen zu vermählen und selbst Mensch zu werden? Maria, so lautet seine zentrale These, ist eine der größten Verführerinnen, die die Mythologie kennt!
Man mag diese Interpretation interessant, obszön oder schlicht überflüssig finden. Der Gedanke, das erotische Moment der Marien-Verkündigung filmisch präsent zu machen, gelang Aumüller jedenfalls eindringlich, vor allem, wenn er - in Anlehnung an die mittelalterlichen Architekten und Maler - den Raum einer Kathedrale als Körperraum Mariens bzw. ihres gekreuzigten Sohnes versteht und ihn mit Lichtstrahlen erfüllt aufleuchten lässt. Nicht zuletzt gehört zum Marien-Eros-Kontext natürlich auch der Tanz. Perotins Gesänge, von Simona Furlani und Tanja Oetterli in einer Choreographie von Johann Kresnik getanzt, werden zu einer sinnlichen Erfahrung, die mehr ist als nur eine Lust für Augen und Ohren. Dahinter steht auch die wissenschaftliche Vermutung, dass die 800 Jahre alten Kathedralgesänge sehr viel mehr mit ekstatischen Derwisch-Darbietungen (die die Kreuzritter im Orient kennen gelernt hatten) zu tun hatten als mit jenen romantisierend-reinen Engelsgesängen, die wir heute, auch und gerade vom Hilliard-Ensemble, als musikalisches Wellness-Programm erwarten.

Christoph Braun, 01.09.2007


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