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N° 1354
20. - 30.04.2024

nächste Aktualisierung
am 27.04.2024



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Passions Of A Man - The Complete Atlantic Recordings 1956 - 1961

Charles Mingus

Rhino/Eastwest R 2 72871
(402 Min.) 6 CDs

Es ist aufregend, sich zu vergegenwärtigen, wieviel großartige Musik der Baßvirtuose, Komponist und Bandleader Charles Mingus zwischen 1956 und 1965 geschaffen hat – einen bedeutsamen Teil davon für das damals junge Label Atlantic. Atlantic verfügte über einen großartigen Toningenieur und genügend unternehmerischen Mut, um Mingus in seinen gewagten Experimenten zu unterstützen.
Gleich seine erste wirklich ausgereifte Langspielplatte trug den unkommerziell-gelehrten Titel "Pithecanthropus erectus". Diese Komposition ist ein anspruchsvolles Stück Programmusik und nimmt mit seinen in den Free Jazz vorstoßenden Partien jene Musik um mindestens fünf Jahre vorweg, während sich die Interpretation von Gershwins "A Foggy Day" mit ihren enervierenden Autohupen in hörspielartige Musique-concrète-Gefilde begibt.
Für den Nachfolger "The Clown" ließ Mingus den Komödianten Jean Shepherd die traurige Geschichte eines Spaßmachers improvisierend ausschmücken. Damit bediente er die Lyrik- und Jazz-Klientel und belebte gleichzeitig die auf die Jahrhundertwende zurückgehende Tradition des Melodrams neu: Seinen ständig wechselnden Musikern (die nirgends so individuell spielten wie bei ihm) legte er zu diesem Zeitpunkt längst keine Noten mehr vor, sondern brachte ihnen die neuen Stücke übers Gehör bei.
"Blues & Roots" und "Oh Yeah" überraschen mit einer scheinbaren 180-Grad-Wendung: Auf "Blues & Roots" bedient sich Mingus der Intensität der Gospelmusik, erinnert an einige Gründerväter des Jazz und widerlegt schlagend den Verdacht, seine Musik sei zu kopflastig; auf "Oh Yeah" entledigt er sich seines Sprachrohrs, des geliebten Kontrabasses, wimmert den Blues und hämmert wie besessen auf sein Zweitinstrument, das Klavier, ein. Bei einem in der Box enthaltenen, ebenso bluesgetränkten Festivalauftritt 1960 in Antibes entfesselt er dann einen sprachähnlichen Disput mit der Bassklarinette Eric Dolphys, der das Publikum hörbar entzweit: Leidenschaften eines Mannes, fürwahr.
Die chronologische Anordnung der Titel liefert keine neuen Erkenntnisse, weil Alternativen (bis auf vier) beim berüchtigten Lagerhausbrand von 1976 vernichtet wurden. Die Ergebnisse einer nicht ganz geglückten Aufnahmesitzung unter der Leitung des Vibrafonisten Teddy Charles gehören eigentlich nicht hierher, und Mingus' Genuschel beim Interview, das die sechste CD füllt, bleibt fast unverständlich. Immerhin hat man den Inhalt von "Tonight At Noon" nunmehr den entsprechenden Platten zugeordnet, auf denen er seinerzeit keinen Platz mehr fand.
Der glückliche Besitzer der sechs Originalalben braucht sich von der Edition nicht angesprochen zu fühlen. Allen anderen ist der Erwerb eine angenehme Pflicht. Mich hat zwar Dave Brubeck einst zum Jazz gebracht – aber erst durch Charles Mingus' energischen Griff nach meinen Eingeweiden bin ich als Hörer erwachsen geworden.

Mátyás Kiss, 01.09.2007


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