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N° 1354
20. - 30.04.2024

nächste Aktualisierung
am 27.04.2024



Franz Schmidts (1874-1939) sehr persönliche musikalische Adaption der Johannes-Apokalypse wurde in ihrer mittlerweile schon fast 70-jährigen Rezeptionsgeschichte immer wieder mit Skepsis und Argwohn betrachtet: Genießt man die ausgeprägten Personalstilistik seiner Tonsprache oder ärgert man sich über ihre auch in den Dreißigern schon unzeitgemäße postromantische Opulenz? Vertraut man auf die von vielen Zeitgenossen beschworene allen politischen Neigungen abholde, vielleicht eher "volkstümliche" Integrität Schmidts oder verzweifelt man an der Hitler-Kantate, die er nach dem Buch mit sieben Siegeln noch komponiert hat? Und schließlich, aus theologischer Sicht: Lässt man sich aufs Schmidts sehr eigenwillige, heutigen Erkenntnissen keineswegs mehr gemäße Deutung der Apokalypse ein oder lehnt man das Ganze als grandiose Missinterpretation ab?
Ohne Zweifel kann man zu diesem originellen, vielschichtigen und strukturell ausgesprochen dichten Werk eine tiefe Zuneigung fassen; die Neuaufnahmen Welser-Mösts (1997, EMI) und Harnoncourts (2000, Teldec) haben ihr Teil dazu beigetragen. Nun legt Fabio Luisi eine weitere, live vom MDR produzierte Version vor. In der umfangreichen, stimmlich äußerst fordernden Partie des Johannes ist Herbert Lippert zu hören: Auch er keineswegs, wie eigentlich von Schmidt gefordert, ein Heldentenor, dafür aber ein einfühlsamer, differenzierter Gestalter, der nicht über die stimmliche Schönheit und Brillanz von Kurt Streit (Harnoncourt) verfügen kann, aber sprachlich präsenter und technisch entspannter agiert als Stig Andersen (Welser-Möst). Jan-Hendrik Rootering, der im Hinblick auf die Qualität seiner Stimme eine vorzügliche "Stimme des Herrn" hätte sein können, enttäuscht durch verquollenen, unfreien Gesang vor allem vor dem Hintergrund von René Papes faszinierender Leistung (Welser-Möst). Von den übrigen vier Solisten überzeugen vor allem Johannes Chum und Günther Groissböck, die u. a. die schauerliche Szenerie auf dem Leichenfeld (viertes Siegel) wirkungsvoll-beklemmend heraufzubeschwören verstehen.
Der MDR-Chor nimmt sich seiner durchaus anspruchsvollen Aufgabe mit äußerster Hingabe und vor allem mit faszinierender vokaler Potenz an: Das zwei Siegel etwa ("Tötet, erwürget, erschlaget den Feind!"), bei dem Luisi ein rasend-aufpeitschendes Tempo vorlegt, wird dem Hörer mit rückhaltloser Expressivität förmlich um die Ohren gehauen. In der "Wasserfuge" hingegen vermögen die Choristen ihre Energie nicht immer mit wünschenswerter Kongruenz zu bündeln, was natürlich auch aufs Konto des Dirigenten gehen könnte: Fabio Luisi hat das große Ensemble mal besser, mal weniger gut im Griff, wodurch er sich von Welser Möst und Harnoncourt, die auch beide live produzierten, nicht wesentlich unterscheidet. Harnoncourt allerdings schöpft die klanglichen Möglichkeiten der Partitur insgesamt gründlicher und plastischer aus. Kurzum: Wer die beiden genannten Alternativ-Einspielungen schon besitzt, muss diese nicht unbedingt anschaffen; wer das Werk kennen lernen will, ist mit Luisis Version nicht optimal, aber solide bedient.

Michael Wersin, 01.09.2007


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