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N° 1353
13. - 24.04.2024

nächste Aktualisierung
am 20.04.2024



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Anton Bruckner

Sinfonie Nr. 3 d-Moll (Erstfassung)

Deutsches Symphonie-Orchester Berlin, Kent Nagano

harmonia mundi HMC 901817
(68 Min., 3/2003) 1 CD

Wer über Karajan, Jochum oder andere Pultmagnaten der 60er und 70er Jahre ”brucknerisiert” wurde, der kennt in der Regel von der dritten Sinfonie nur deren letzte Umarbeitung von 1889 oder die zweite Version von 1877. Ungewohnt ist folglich schon im Notenbild Naganos Einspielung der Erstfassung von 1873, die nicht nur über 400 Takte länger ist als die Letztversion; hier ”mäandriert” auch noch so manches Motiv richtungslos in den Harmonielandschaften. Die alte böse Frage, mit der Bruckner immer wieder traktiert wurde (und die sich auch ein heutiger Brucknerianer wie Harnoncourt früher kritisch stellte): was spielt sich bei Bruckner in den Zeiten zwischen den grandiosen Genieblitzen ab? - diese häretische Frage nach ”verlegenem” Leerlauf oder subtilem Motivgeflecht in den ”Überleitungen” ist hier, bei dieser Erstfassung, zumindest wenn sie noch ungewohnt ist (und nicht bereits mit Inbals zwanzig Jahre alter Einspielung ad acta gelegt wurde), nicht immer von der Hand zu weisen. Da entschädigen auch nicht die vielen, subtil verarbeiteten Wagnerzitate, mit denen der devote Bruckner dem ”Meister aller Meister” in dieser seiner ”Wagnersinfonie” huldigte, oder auch - wie im letzten Satz - die direkten Anleihen an Schuberts große C-Dur-Sinfonie.
Hat man jedoch einmal die vertraute Spätversion verdrängt, dann beginnt man den Gedankenreichtum dieser Erstfassung zu verstehen, und vor allem: man staunt über die Kontrastschärfe, mit der Bruckner die gewaltigsten Klangballungen direkt neben die subtilsten Solopassagen platziert. Nagano kniet sich förmlich in diese Extreme hinein, er modelliert den Dissonanzenhöhepunkt des ersten riesigen: 26-minütigen Satzes zu einem wahren Leidensexzess (der Bruckners gerade vergangene schwerste Lebenskrise höchst plastisch vergegenwärtigt), während direkt anschließend die Holzbläser geradezu nackt und schutzlos ihre fragilen (und fragmentartigen) Kantilenen intonieren. Überhaupt: sein Deutsches Symphonie-Orchester hat der nunmehr fünf Jahre an der Spree amtierende Kalifornier zu einer grandiosen Leistung animiert. Mit diesen vorzüglichen Blechbläsern wird die Tristan-Apotheose des Adagios zu einem frenetisch intonierten Liebes-Gebet.
Solch ein Orchesterglanz lässt einen denn auch (fast) davon absehen, dass Nagano die Ecksätze im Tempo etwas bedächtig angeht und das Scherzo mitsamt dem Trio allzu metrisch streng und unflexibel, also unösterreichisch-unbrucknerisch, durchlaufen lässt. Gleichwohl: ein höchst diskussionswürdiges Plädoyer für die vergessene Erstfassung.

Christoph Braun, 01.09.2007


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