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N° 1353
13. - 24.04.2024

nächste Aktualisierung
am 20.04.2024



Telemann selbst nannte den Passionstext des ihm freundlich verbundenen Brockes "unverbesserlich". Tatsächlich war Barthold Heinrich Brockes im frühen 18. Jahrhundert so erfolgreich, dass allein von seiner Oratoriumsdichtung "Der für die Sünde der Welt gemarterte und sterbende Jesus", die dieser Einspielung zugrunde liegt, 13 zeitgenössische Vertonungen nachweisbar sind (darunter von Händel, Keiser, Mattheson und Stölzel). Zu der älteren Gesamtaufnahme unter Nicholas McGegan stellt René Jacobs' Lesart eine reelle Alternative dar. Eine Ersteinspielung (wie frühere Jacobs-Großtaten) ist die Aufnahme nicht.
Es ist erstaunlich, dass der alte Karajanbrauch, einen eigenen Stamm von Solisten um sich zu scharen, der im sonstigen Schallplattenbetrieb kaum eine Rolle spielt, von niemandem so sehr übernommen wurde wie von etlichen Meistern der historischen Aufführungspraxis. Das gilt auch für die Striktheit und Autorität der Musikvermittlung: Der altgediente Maestrotypus ist heute nirgendwo formvollendeter am Werk als in der Alten Musik! René Jacobs’ Familiensinn geht dabei inzwischen fast zu weit. Die mitunter keifende Birgitte Christensen, der fast belegte Daniel Behle (Evangelist) und der tönende Johannes Weisser (Jesus) sind, gemessen am gut sortierten Markt heutiger Barockstimmen, nicht ganz erste Wahl. Marie-Claude Chappuis und die hymnisch ausleitende Lydia Teuscher dagegen schon. Von den 117 Nummern des Werkes hat Jacobs acht gestrichen (vor allem im zweiten Teil), was den Eindruck der Geschlossenheit begünstigt. Dennoch erschließt sich Telemanns Meisterwerk hier eher über die Fülle staunenswerter Details. Die atmosphärische Dichte und wunderzarte Virtuosität der Akademie für Alte Musik, ebenso der formidable RIAS Kammerchor, beide von Jacobs dramatisch angeheizt, machen diese Aufnahme immer wieder zu einem fesselnden Ereignis. Hoffentlich ein Durchbruch für dieses Telemannwerk!

Robert Fraunholzer, 28.03.2009


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Kaum zu glauben, dass sich Zuhörer zu irgendeiner Zeit, ganz zu schweigen von der heutigen, von diesem sado-masochistischen Blut-, Schleim- und Geifergespritze mal erhoben oder erbaut gefühlt haben sollen. Schon klar, dass ein historisches Dokument nicht an den Maßstäben eines anderen Zeitalters gemessen werden sollte – aber wem will es gelingen, sich von dieser pietistischen Unterwürfigkeitsübung und diesem theologisch dürftig bemäntelten Voyeurismus begeistern zu lassen? Wie kommentiert die „gläubige Seele“ die Geißelung „des zarten Rücken mit nägelvollen Stricken“? Auf diese Art: „Denn aus den Ritzen seiner Wunden, weil er die Glut im Busen trägt, seh ich, sooft man auf ihn schlägt, sooft mit Strick und Stahl die Schergen auf ihn dringen, aus jedem Tropfen Blut der Liebe Funken springen“. Jippie! Nächste Arie: „Schau, wie die Mörder ihm seinen Rücken pflügen. Wie tief, wie grausam tief sie ihre Furchen ziehn, die er mit seinem Blut begießet, woraus der toten Welt des Lebens Ernte sprießet.“ Was stößt mehr ab? Die sadistische Freude, mit der jeder Peitschenhieb anschaulich zelebriert wird, oder die halbmasochistischen Erlöserwonnen, von denen Jesus mutmaßlich erschauert? „Es scheint, da den zerkerbten Rücken des Kreuzes Last […] zu Boden drücken, er danke mit gebeugten Knien, dem großen Vater, dass er ihm das lang ersehnte Kreuz verlieh’n.“ Tochter Zion schaut’s und rätselt hin- und hergerissen zwischen Gafflust und ekstatischer Heilsgewissheit: „dein schmerzlich Leiden schreckt die Seel’ und bringt ihr Freuden. Du bist ihr erbärmlich schön!“ Telemann hat beeindruckende Musik dafür komponiert. René Jacobs und sein Ensemble musizieren erstklassig. Aber wem will es gelingen, sich auf die Verbrämung dieser frömmelnden Schlachtorgie einzulassen? Was soll erbaulich oder kathartisch an der Selbsterniedrigung der sündigen Seele sein? „Ich Hund hab meinen Gott verraten. Laßt diese Tat nicht ungerochen, zerreißt mein Fleisch, zerquetscht die Knochen, ihr Larven jener Marterhöhle, […] dass sich die verdammte Seele ewig quäle.“ Das wirkt lediglich befremdlich. Besonders angesichts der maßlosen Identifikation, mit der die Altistin hier mitfiebert. Auch bei den anderen Solisten: Der Text würde von einer distanzierteren Ausführung, von Stilisierung und Zurückhaltung profitieren. Stattdessen leiden die Sänger atemlos mit, opfern Technik und Schöngesang – das kostet Effekt. Wenn der gepeinigte Jesus sich selbst so bemitleidet wie hier; wenn Tochter Zion („Schäumest du, du Schaum der Welt, speit dein Basiliskenrachen, Brut der Drachen, dem, der alle Ding enthält, Schleim und Geifer ins Gesicht“) selbst schäumt, speit und geifert, dann weckt das keine innere Teilnahme beim Zuhörer. Man wendet sich peinlich berührt ab. Fünf Sterne für René Jacobs, die Akademie für Alte Musik und den RIAS Kammerchor. Null Sterne für Brockes’ Schleim- und Eiterpassion, die den Zuhörer dazu einlädt, sich schäbig und unwürdig zu fühlen und sich an lustvoll gezeichneten Folterszenen zu erbauen. Einladung dankend abgelehnt.


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