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N° 1354
20. - 26.04.2024

nächste Aktualisierung
am 27.04.2024



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Heiner Goebbels

Stifters Dinge

Heiner Goebbels

ECM/Universal 476 4193
(62 Min., 10/2007)

Gleich zu Beginn beginnen „Stifters Dinge“ zu zischen, als ob sie jemand an eine hydraulische OP-Apparatur angeschlossen hätte, um sie mit Sauerstoff zu versorgen. Oder befindet man sich vielleicht doch eher in einem dampfenden Klangmaschinenkeller, dessen Fundamente von einem dumpfen (Herzschlag-)Rhythmus erbeben? Nur selten löst man all diese Geräuschrätsel, die Heiner Goebbels ausgelegt hat. Hier scheint es plötzlich ins Getriebe zu regnen. Dort ballen sich geheimnisvolle Klangwolken zusammen. Und zwischendurch brechen in diese unidentifizierbaren Raumklänge plötzlich exotische Gesänge aus Papua Neuguinea ein. Oder in Einblendungen von historischen Reden, Interviews und Statements melden sich der französische Ethnologe Claude Lévi-Strauss, der Beatnik-Autor Williams S. Burroughs sowie der amerikanische Bürgerrechtler Malcolm X zu Wort. Wie passt das alles zusammen? Genau diese Frage stellt sich Heiner Goebbels niemals. Denn erst wenn er ein Stück beendet hat, beginnt es für ihn durch den Hörer zu leben. In Anlehnung an eines seiner großen Vorbilder, John Cage, sieht sich Goebbels als ein Komponist, der mit seinen Werken die Fantasie nicht kanalisieren, sondern anspringen lassen will.
Den klassischen Erzählstrang hat er somit aus seiner Klang-Installation „Stifters Dinge“ genauso getilgt wie alle traditionellen Aufführungskonventionen. Bei der Uraufführung dieser Collage 2007 in Lausanne standen lediglich fünf surreal entfremdete Klaviere auf der Bühne, die mit einem Keyboard verbunden waren und dem Goebbels zudem lautmalerische Samples etwa von Wassertropfen entlockte, ansonsten herrschte gähnende Menschenleere. Nun liegt Goebbels´ Einladung, sich assoziativ durch dieses scheinbar wahllos zusammengestellte Gestrüpp aus Klängen und Texten zu bahnen, auf CD vor. Dreh- und Angelpunkt ist dabei die Beschreibung eines unwirklichen Geräuschpanoramas einer Eislandschaft, die der österreichische Romantiker Adalbert Stifter in seiner Dichtung „Die Mappe meines Urgroßvaters“ ausbreitet. Und direkt zu Beginn steht in der von Hermann Mohr gelesenen, ins Englische (warum nur?) übersetzten Passage ein Satz, der fast ein geheimes Motto von „Stifters Dinge“ sein könnte: „Ich hatte dieses Ding nie so gesehen wie heute.“ Das Überraschende und Verblüffende im sinnlichen Erleben und Entdecken des Fremden – das ist der eigentliche Motor in dieser Hör-Expedition, mit der Goebbels kulturellen Grenzen, eurozentrischen Blickwinkel und damit abendländischem Schubladendenken entgegentritt. Und die Möglichkeiten, sich und seine Umwelt hörend neu wahrzunehmen, sind allein in „Stifters Dinge“ so unendlich vielfältig.

Guido Fischer, 22.09.2012


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