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N° 1353
13. - 24.04.2024

nächste Aktualisierung
am 20.04.2024



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Wolfgang Amadeus Mozart

Klavierkonzerte Nr. 18 KV 456, Nr. 21 KV 467, Nr. 22 KV 482, Nr. 23 KV 488, Nr. 26 KV 537, Nr. 27 KV 595, Klaviersonaten Nr. 12 KV 332, Nr. 17 KV 576

Robert Casadesus, Columbia Symphony Orchestra, George Szell

Sony 5033902
(1955 - 1964) 3 CDs

All die Metaphern und Adjektive, die bislang für die Beschreibung der Kunst Robert Casadesus' herhalten mussten, sie kamen aus einer gleißend hellen, schattenlosen Geistesregion, aus den südlichen Marmorsteinbrüchen. Hell, hart, kalt. Ist die Kunstanschauung dieses Meisters so begrenzt? Ist dies eine ernüchternd handwerkliche, zwanghaft dem Materiellen verhaftete Kunst, ausgegrenzt von jenen Schauermomenten, in denen man Beethovens Geist oder wem immer begegnet (Edwin Fischer könnte bestimmt davon erzählen ...)?
Gewiss, in welchem Maße klassischer Werke tönende Philosophie oder Biografie sein könnten, dürfte Casadesus weniger beschäftigt haben als die perfekte Exekution der Sechzehntelpassagen. Nun ist es aber so, dass diese Handwerkskunst einen unkörperlichen, schwerelosen Grad erweichen kann, der das Handwerkliche selbst auf die Stufe des Geistigen hebt. Diese Geistigkeit aber ist schlackenlos, und sie strahlt aus einigen von Casadesus' frühen Mozart-Aufnahmen, die uns noch nach fast fünfzig Jahren schlichtweg vor Erstaunen den Mund aufsperren lassen.
Zunächst staunen wir, um gleichsam den "Dienstweg" beim Hören einzuhalten, technisch-pianistischer Reize wegen. Wir begegnen der von Antonin Marmontel und Diémer über Marguerite Long tradierten puren Fingertechnik der Französischen Schule, die ja eigentlich nur für zwei Komponisten taugte, für Mozart und Saint-Saëns. Wer denkt, die schnellen Tonleitern, die jeder Pianist abschnurren muss und meistens auch kann, hätten irgendetwas mit dem echten "jeu perlé" zu tun, sollte am besten mit der Mozartsonate KV 576 beginnen und hören, wie hier wirklich nur die Finger arbeiten, stahlhart geworden in tausenden von Stunden Czerny und Hanon.
Ein Ton entsteht, der, quasi nur mit der Fingerkuppe punktiert, die gleich wieder nach oben schnellt, das Bild der aufgeschnürten Perlen beschwört, weil zwischen den zart-regelmäßigen Anschlägen ein wenig mehr Raum zu bleiben scheint. Bei Casadesus erleben wir jenes körperlose, ätherisch-schimmernde Laufwerk, Apotheose des Mechanischen in Reinkultur. So träumte sich Diémer den Klaviergott. Aber wie immer bei Casadesus, wie bei jedem wahren Künstler, sind diese technischen Finessen, so sehr sie uns erst verblüffen, nur ein Mittel, eine stilistische Vision umzusetzen.
Die Vision eines makellosen, unsüßlich-männlichen Mozart. Und besonders in der 1955 entstandenen Aufnahme des B-Dur-Konzertes KV 456 spürt man den Willen zur kühnen, ja ungefälligen Formulierung. KV 456 ist ein in den ersten beiden Sätzen weich-gefälliges, fast etwas effeminiertes Stück. Doch genau diesen schmeichlerischen Ton härtet Casadesus vom trocken federnden, regelrecht cembalohaften Solobeginn an. Geist und Elan im Zusammenspiel mit Szell sind hinreißend, und sogar das Finale, keine Sternstunde thematischen Einfallsreichtums, retten die beiden in federndem Geschwindmarsch. Hier haben wir die Essenz des Casadesus-Stils.
Doch was bei Mozart oder Ravel gelingen kann, nämlich das Ganze im diesseitig-rationalen Entwurf zu gewinnen, das funktioniert bei Beethoven nicht. Seinem Anschlag kann Casadesus mühelos mehr Armgewicht auflegen. Bemerkenswert genug, dass er aus dem mechanischen Gefängnis seiner Conservatoire-Dressur so mühelos ausbrechen kann. Beethovens unmäßiges Temperament, das Eruptive, grimmig Humorvolle aber ist seinem maßhaltenden Wesen etwas fremd, und so findet er nicht den ganzen Beethoven. Seine Hemisphäre aber belebt Casadesus, nun vom Auffädeln der Perlen zum Bearbeiten von Marmor übergehend.
Das Es-Dur-Konzert kommt wuchtig, aber ohne jedes pathetische "Emperor"-Trotzgebärde (5033952). Pathos bedarf des Ausholens, des Atemholens vor der großen Geste, aber dieses Innehalten selbstbestätigenden Kräftesammelns gibt es hier nicht, nicht einmal am Höhepunkt der Durchführung. Auch dem Irrationalen, Häßlichen gar, gestattet Casadesus keinen Einbruch in seine Welt des Mittagslichts. Doch ohne den innerlich motivierten Aufschrei muss das Ende des Andante-Dialoges im vierten Konzert unverbindlich, ja etwas blass bleiben (5033872). Dafür hören wir allerdings im Finale, wieviel Mozart noch im mittleren Beethoven nachklang.
Bei den Beethoven-Sonaten (5033932) weitet sich der Horizont. Natürlich ist die frühe A-Dur-Sonate Casadesus Paradestück mit ihrem glitzernden, immer weiter wachsenden Rankenwerk im Finale. Doch auch das späte A-Dur-Werk Opus 101 liegt dem Meister der Distanz - entrückt, wie eingefroren liegt die schwärmerische Tristan-Landschaft des Kopfsatzes vor uns, um so kühner stürzt er sich in das borstige "alla marcia". Diese Sonate bewahrt ihre Spiritualität auch im Zustand der Unterkühlung. Für die As-Dur-Sonate op. 110 aber muss man innerlich glühen, ja leiden. Sie erzählt vom Verlust unschuldig-melodischer Schönheit, von Zerbrechen und Erlösung. Dem das Material akkurat ordnenden Casadesus schwieg das Werk. Hier sind wir an eine Grenze seiner Ästhetik gestoßen.
Die "Appassionata" dagegen gerät zum Eisgebirge, die Ungerührtheit, die Regelmäßigkeit angesichts des katastrophischen Geschehens ist erschreckend. Man könnte ein Metronom daneben stellen. Es sind Details wie die länger als gewöhnlich gehaltenen Fermaten, es ist dieses Umfeld absoluten Schweigens, vor dem sich diese kalkulierte Raserei so unheimlich abhebt. Das Maschinenhafte, das Casadesus sonst durchgeistigt, hier zeigt es seine zutiefst bedrohliche Seite.
Man würde nicht annehmen, dass ein Typus wie Casadesus ein besondere Neigung zu Schumanns (5033942) versponnenem Wesen haben könnte, und doch spielte er ihn seit der Studienzeit häufig. Und an Großwerken wie der Fantasie entzündet sich die ganze Energie dieses Pianisten, kraftvoll bis zum Brachialen stemmt er den Kopfsatz, unglaublich, wenn man sich der Perlenschnüre bei Mozart erinnert. Und mit so wenigen Tempoverbiegungen kann einer im "Carnaval" auskommen! Florestanisch keck ist dieser Draufgänger, dem Eusebius "Gemütlichkeit" nicht recht geheuer ist. Allenfalls die elegant-weltmännische Gebrochenheit "Chopins" lässt er zu. Freilich nicht unmittelbar. Wirklich "agitato" attackiert Casadesus diese Miniatur, wir mögen denken, nun übertreibt er's aber einmal mit dem Handfesten. Und dann hüllt er die Wiederholung in ein hauchzartes Zwielicht, das uns so bezaubert, weil es kostbare Ausnahme bleibt.
Für psychologische Spitzfindigkeiten sind andere Pianisten da. Casadesus' Aufgabe ist es, die "sinfonischen Etüden" in barocker Transparenz auszuleuchten. Und uns mit einem "Vogel als Propheten" zu amüsieren, der nicht in Cortots unheimlichem Wald zu sitzen scheint, sondern unter einer Kristallglocke in Ravels Sammlung mechanischer Tiere. "Oiseaux tristes" sind nah. Aber diese Prophetie ist vielsagend, sie führt uns genau jenen Komponisten vor, der von Saint-Saëns bis Ravel in Frankreich rezipiert, bewundert und imitiert worden ist. Spinnerte Dissoziation, die man nicht begriff, weil sie dem lateinischen Maßbedürfnis nicht geheuer war, filtert diese Schumann-Wahrnehmung einfach heraus.
Innerlich mochte Casadesus den Rhein nicht überschreiten, das Fantastische, Dunkle der deutschen Musik lag ihm sowenig wie einem Ravel oder Debussy. Mag sein Repertoire auch weiter gewesen sein als das der meisten anderen französischen Pianisten, es bleibt ein Reich regiert von lateinisch-rationalem Intellekt. Das trennt ihn von Cortot. In Casadesus Reich ging die Sonne des Verstandes nicht unter. Aber in seiner Kunst verknöcherte Intellektualität nicht, sondern ging in aristokratischer Mühelosigkeit des Entwurfs und der Ausführung auf.
Es ist ein großes Geschenk, dass wir in unserer geistfeindlichen Zeit, die pseudoartistischen Scharlatanerien und Schaumschlägereien so aufgeschlossen ist, die Chance haben, ein großes Stück des Klavierrepertoires durch die Augen eines Meisters wie Casadesus zu sehen. Einen wie ihn mit all seiner Eleganz, Redlichkeit und unerbittlichen Logik gibt es nicht mehr.

Matthias Kornemann, 01.09.2007


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