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N° 1354
20. - 26.04.2024

nächste Aktualisierung
am 27.04.2024



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Sonny Rollins

»Ich muss raus«

Seit mehr als 50 Jahren hat Sonny Rollins denselben Spitznamen: Er ist der »Saxophone Colossus«. Was 1956 als Titel einer seiner ersten LPs noch anmaßend wirkte, erwies sich bald als begründet. RONDO-Autor Werner Stiefele sprach mit dem Jazzgiganten über genervte Nachbarn, Religion, den 11. September und darüber, wie der Tod seiner Frau sein Leben grundlegend veränderte.

Für Sonny Rollins ist die Definition von Jazz einfach und klar: »Jazz ist Improvisation«, sagt er. »Man spielt, was man im Moment fühlt.« Wie er die Worte betont, drückt mehr aus, als sie für sich genommen bedeuten. Denn damit wendet er sich zugleich gegen die Vorstellung, für eine Combo müssten komplizierte Arrangements geschrieben werden. »Bei mir funktioniert das nicht«, lacht er lauthals. »Ich bewege mich ziemlich schnell woandershin, als da auf dem Papier steht.« Anders als bei den um komplexe Arrangements bemühten Neo-Akustikern der Gegenwart sind die Aufgaben klar verteilt: Es gibt Solisten und Begleiter. »Ich brauche eine strukturierte Umgebung«, sagt er. »Die Band muss mir in jeder Regung folgen. Dann bin ich in der Lage, extrem frei zu improvisieren.«
Natürlich hat Rollins die Entwicklung des Jazz nicht nur erlebt, sondern auch reflektiert. »In den Fünfzigern mussten wir die Leute davon überzeugen, dass Jazz eine wertvolle Musik ist.« Inzwischen ist dies anders. Wenn er heute sagt, Jazz sei »der klassische amerikanische Beitrag zur Kunstmusik «, stößt er fast überall auf Zustimmung. Wie bei vielen Jazzmusikern zählten auch bei ihm in den Fünfzigern Drogen zum Alltag. Erst Ende des Jahrzehnts ging er auf Entzug – etwa um 1957, als er seine Frau Lucille heiratete. Er zog sich zurück, arbeitete an seiner Spieltechnik und erweiterte seinen musiktheoretischen Horizont. Geprobt hat er bis zu 16 Stunden am Tag auf der Williamsburg Bridge, denn das Apartment des Ehepaars auf der Grand Street in der Lower East Side von New York war zu klein – und außerdem hätte er die Nachbarn gestört. »Sie brauchten Ruhe«, sagt er. »Ich hatte ihnen gegenüber Schuldgefühle.« Der Titel seines 1962 eingespielten Comebackalbums »The Bridge« spielt auf diese Lern- und Selbstfindungsphase an.
In den Sechzigern war Rollins zwar clean, dennoch fühlte er sich nicht mit sich selbst im Reinen. »Ich musste langsam entdecken, um was es im Leben wirklich ging – jenseits von Alkohol und Frauen«, blickt er zurück. »Ich suchte beim Zen-Buddhismus, bei Yoga, dem Sufismus, den Rosenkreuzern und vielem Anderen nach Antworten.« Das dauerte, bis ihn »ein indischer Guru nach vier oder fünf Monaten im Ashram überzeugte, ich würde am besten meditieren, indem ich Saxofon spiele. Das war die richtige Antwort für mich.« Er drängte sich nicht mehr ins Rampenlicht und sonderlich skandalträchtig verlief sein weiteres Leben auch nicht mehr. Das Paar bezog 1970 eine Stadtwohnung in Manhattan und schuf sich zudem mit einer Farm in Germantown im Bundesstaat New York ein Domizil. 1971 übernahm Lucille sein Management. »Meine Frau und ich waren Geschäftspartner – außer dass wir Ehemann und Ehefrau waren«, sagt er wehmütig. Die New Yorker Wohnung lag nur sechs Blocks vom World Trade Center entfernt. »Am 11. September konnte ich aus dem Fenster das Attentat beobachten «, erinnert er sich. »Ich wurde evakuiert, denn die Wohnung war kontaminiert.« Er kehrte nicht mehr zurück, sondern holte alle Fotos, Bücher, Noten, Schallplatten und CDs sowie seinen Flügel und die Saxofone auf die Farm – mit einer Portion Fatalismus. »Ich habe das Gefühl, dass wir in einem Zeitalter leben, in dem alles endet und die Menschheit sich selbst zerstört. Wenn das ein göttlicher Plan ist, dann muss es so sein. Das Leben ist nur dazu da, in ein anderes Leben überzugehen.«
In den vergangenen Jahren war Sonny Rollins’ voluminöser, rauer, oft explosiver Ton nur selten auf den großen Bühnen zu hören – das Landleben mit seiner Frau gefiel ihm besser als der Wanderzirkus von Hotel zu Hotel. Zu Beginn des neuen Jahrtausends blieb er zudem in Germantown, weil er seine sterbenskranke Frau bis zu ihrem Tod 2004 pflegte. »Sie fehlt mir«, sagt er jetzt. »Ihr Tod hat mein Leben verändert. Ich bin einsam. Es ist ein anderes Zuhause geworden. Ich muss häufiger raus.« 2008 war er schon in Japan, Korea, Singapur, Australien. Vom 26. November bis 6. Dezember stehen in Deutschland fünf Konzerte auf dem Programm.

Werner Stiefele, 31.05.2014, RONDO Ausgabe 4 / 2008



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