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N° 1353
13. - 21.04.2024

nächste Aktualisierung
am 20.04.2024



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Die Retro-Serie: »Traumland der Operette

Singende Fresswelle

Die Serie »Traumland der Operette« taucht tief hinab in die Abgründe der Operettenseligkeit. Für Robert Fraunholzer tat sich bei den 25 Folgen ein reicher, köstlich abgehalfterter Kosmos auf – eine Fundgrube für Einsteiger und Fortgeschrittene.

Zu dumm, dass man sich unter Klassik etwas Seriöses vorstellt. Viele der alten Schallplattenklassiker – von Heifetz bis Callas, von Casals bis Horowitz – geben sich heute in der Gestalt von Wiederveröffentlichungen oft das Ansehen von Ramschware. Freilich werden sie dabei auch billiger. Es liegt an abgelaufenen Verwertungsrechten, durch die diese Klassiker frei werden für alle. Das bedeutet auch: Rudis Resterampe ist an der Klassiktheke angekommen. Dieser ernste Sachverhalt macht dem Selbstverständnis der Branche nicht wenig zu schaffen.
Ein Paradebeispiel lässt sich derzeit im Bereich der Operette bestaunen. Die Firma Membran/Documents wirft sonst mit Boxen à la »Sissi – Musik für eine Kaiserin« oder »Karajan – Maestro Nobile« Qualitätsaufnahmen mit abgelaufenem Rechtedatum zu erfreulichen Schleuderpreisen auf den Markt. Dennoch hat das Unternehmen mit seiner Reihe »Traumland Operette « – dem verdächtigen Titel zum Trotz – eine konkurrenzlose Serie von Repertoire-Trouvaillen vorgelegt. So unzweifelhaft die Doppel-CD-Sets etwa der »Fledermaus« oder des »Schwarzwaldmädels « nach Grabbelkiste aussehen, so sehr dürften sich Kenner der Materie danach die Finger lecken. Denn aufgepasst! Die zumeist von dem Kölner Rundfunkdirigenten Franz Marszalek (1900-1975) betreuten Einspielungen zählen oft zu den besten Operettenaufnahmen der Nachkriegszeit. Sie gingen der schmalen und berühmten »Champagner-Serie« historisch voraus, die (in Gestalt von nur sieben Aufnahmen) der legendäre Produzent Walter Legge später in den 50er Jahren zum Sprudeln brachte.
Wer einen Hauch der Vorkriegsfrechheit und Operettenaufmüpfigkeit erhaschen will, der noch früher von Kultstars wie Fritzi Massary und Richard Tauber ausgegangen war, der kommt an Legges Meilensteinen (mit Elisabeth Schwarzkopf) nach wie vor nicht vorbei. Neben sie treten aber jetzt einige Fundstücke Marszaleks aus der »Traumland«-Serie. Diese Aufnahmen enthalten noch wenig vom Pantoffelfilz der späteren Rudolf-Schock-Welle – oder von der Haarspray-Steife Anneliese Rothenbergers. Und das, obwohl gerade diese Sängerin auch bei Marszalek mehrfach zum Einsatz kam (und hier etliche ihrer besten Operettenleistungen dokumentieren konnte). Unter den mehr als ein Dutzend Marszalek-Operetten bei Membran ragen nicht so sehr die Klassiker hervor – wie Johann Strauß’ »Nacht in Venedig« (mit Rita Streich), Franz von Suppés »Schöne Galathée«, Carl Millöckers »Gasparone«, Franz Lehárs »Land des Lächelns« (mit Rothenberger) oder »Paganini« (trotz Peter Anders und Anny Schlemm). Diese Aufnahmen waren entweder früher schon auf CD erhältlich oder werden von Konkurrenzaufnahmen übertrumpft. Sie sind Ausdruck einer singenden Fresswelle der 50er Jahre, die sich in gemächlichem Walzertakt vorwärtswälzte.
Nein, zu großer Form lief Marszalek, der als Kinodirigent in seiner Heimatstadt Breslau begann, bei den Trouvaillen und Randwerken auf, die er sich offenbar zur Mission gemacht hatte. Er war mit Eduard Künneke befreundet und kann als einer der letzten Anwälte des heute sträflich vernachlässigten Leo Fall gelten. Nicht zufällig vermag Falls (völlig in Vergessenheit geratene) Habsburger-Operette »Die Kaiserin« in dieser Serie für echtes, paradigmatisches Entzücken zu sorgen. Die 1915 in Berlin uraufgeführte »Kaiserin«, deren Ruf fast nur aufgrund dieser WDR-Aufnahme von 1953 überdauerte, präsentiert sich als eine Art Politoperette mit Sissitouch. Die noch ungekrönte Maria Theresia heiratet selbstbewusst den blass-unbedeutenden Franz von Lothringen (Franz Fehringer), der sich fortan mit seiner Rolle der männlichen First Lady zufrieden geben muss. Anny Schlemm (in ihrer besten Zeit) gibt die Frühemanzipierte mit kecker Grandezza. Die Dialoge spricht – man höre und staune! – niemand Geringeres als die Burgtheater-Legende Paula Wessely. Als Hofschranzen bestricken Schnulzenkönig Willy Schneider (Graf Kaunitz), Kurt Großkurth und Hans Schanzara. Als Bonus erfreut ein Querschnitt durch Leo Falls »Der fidele Bauer« (mit Benno Kusche und Herta Talmar).
Marszalek verstand es noch, Operetten auf ungekünstelte Weise in Fluss zu bringen. Das kam Emmerich Kálmáns (nur in dieser Aufnahme greifbaren) »Zirkusprinzessin« zugute (als Mister X hier wieder mit Franz Fehringer, gesprochen vom grünschnabeligen Hansjörg Felmy). Sári Barabás als Fürstin Fedora Palinska hatte hier 1955 ihren halbseidenen Großauftritt. Unter den Dialogsprechern erstaunen Lola Müthel und Gustav Knuth. Auch Köstlichkeiten wie »Die große Sünderin « von Eduard Künneke (1951 mit Opernröhre Maud Cunitz und einem noch untranigen Rudolf Schock) kann man hier wiederentdecken (Bonusquerschnitt: Künnekes »Die lockende Flamme« mit Rothenberger und Karl Friedrich). Ralph Benatzkys »Meine Schwester und ich« (1951 mit Gretl Schörg, Günther Lüders und Heinz Ehrhardt (!) – plus Highlights aus »Bezauberndes Fräulein«) sowie Walter W. Goetzes Sachsen-Soap »Adrienne« (Track 15 auf der aktuelle RONDO-CD) bilden Juwelen einer bisweilen fragwürdigen, aber in ihrer dezenten Ranzigkeit schon wieder pittoresken Aufführungstradition.
Auch dem damaligen Militärkapellmeister (und Dirigenten des Hamburger Rundfunkorchesters), Wilhelm Stephan (1906-1994), wird in der Reihe ein illustres Denkmal gesetzt. »Clivia« von Nico Dostal (1951 mit Rothenberger und Rupert Glawitsch) und »Frau Luna« von Paul Lincke (1954 mit Rothenberger und Walter Gross) gehen nicht zimperlich zu Werke, stellen aber rare Fundstücke innerhalb des schmal und anämisch gewordenen Operettenrepertoires dar. Ähnliches gilt für »Die Dubarry« von Carl Millöcker unter der Leitung von Fried Walter (1954 mit Anny Schlemm, Agnes Windeck und – Martin Held!). So ausverkaufsselig die groß angelegte Serie wirkt – und so liebevoll geschmacksfrei sie ausgestattet ist: »Traumland Operette« ist die Fundgrube für Fortgeschrittene schlechthin. Nicht immer aufnahmetechnisch, aber doch künstlerisch sind die Einspielungen späteren Katalogklassikern etwa der EMI (aus den 60er und 70er Jahren unter Willy Boskovsky, Willy Mattes oder Heinz Wallberg) oft vorzuziehen. Der Repertoirewert der unbekannteren Werke jedenfalls bleibt beträchtlich trotz der hier fröhliche Urständ feiernden 50er Jahre.
Wer den Hals nicht voll kriegt, dem gönnen zwei Doppel-CDs mit »Raritäten« intime Einblicke ins Feuchtbiotop der zuunterst liegenden, zumeist vergessenen Werke. Hier mimt Karl Ridderbusch Zellers winzerseligen »Kellermeister« oder gießt Erich Kunz mit dem »Mutterlied« aus Edmund Eyslers »Schützenliesl« reichlich Rizinusöl ins Familienleben. René Kollo versucht sich an Nico Dostals »Manina«. In der »Folge 2« klappert Heinz Hoppe sein »Heimat, mit der Seele grüß ich dich« aus Rudolf Kattniggs »Balkanliebe«. Herta Talmar behauptet: »Ich tu nur bös, bin sonst fidel« aus der »Försterchristl« von Georg Jarno. Derart tief konnte man lange nicht in die Abgründe vergangener Operettenherrlichkeit hinabhorchen. Was für ein reicher, köstlich abgehalfterter Kosmos liegt da hinter uns! Und wie viel unbekanntes Material harrt da der Wiederaufführung. Wir freuen uns schon auf Robert Stolz’ »Prinzessin Ti-Ti-Pa«, auf Willy Richartz’ »Tanzende Helena« und Paul Linckes »Grigri«. Aus ihnen allen sind hier wundervolle Preziosen versteckt.

(www.membran.net/Serien/Klassik/ Traumland_der_Operette)

Robert Fraunholzer, 07.06.2014, RONDO Ausgabe 3 / 2008



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