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N° 1354
20. - 30.04.2024

nächste Aktualisierung
am 27.04.2024



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Franz Schuberts Klaviersonate B-Dur D 960: Unendliche Seelenschwingungen

Von wegen: Schubert, das Schwammerl aus dem »Dreimäderlhaus«. Wer sich einmal auf Schuberts letzte lange und bewegende Achterbahnfahrt eingelassen hat, die er nur wenige Wochen vor seinem Tod am Klavier antrat, der will von all den Klischees nichts mehr hören. So wie Guido Fischer nach seinem Interpretationsvergleich ausgewählter Einspielungen von Schuberts Klaviersonate B-Dur D 960.

Raus aus dem Schatten Beethovens

»Beethoven, gestorben am 26. März 1827, Schubert, gestorben am 19. November 1928 – Wer schafft uns eine neue Eroica? Wer frische Müllerlieder? Das Reich der holden Musica, so glanzvoll kehrt es nimmer wieder!« Was Eduard von Bauernfeld kurz nach dem Tod des Freundes Schubert seinem Tagebuch anvertraute, ist ein resignierender Abschiedsgruß an zwei hochverehrte Komponisten – und an die Musik überhaupt. Doch diese kleine Notiz ist mehr als nur eine letzte Verbeugung. In ihr spiegelt sich das wider, worum Schubert immer gerungen hatte. Stets wollte er dem übermächtigen Schatten Beethovens entkommen, um mit Beethoven in einem Atemzug genannt zu werden. Auch als Komponist von 21 Klaviersonaten hat Schubert diesen Weg der Befreiung unbeirrt verfolgt. Davon zeugt auch die Sonatentrias D 958-960 vom September 1828 mit der Nr. 21 in B-Dur als pianistischer Schwanengesang. Mit ihr setzte sich Schubert endgültig und im großen Maßstab von den dialektisch aktiven Gestaltungsprinzipien ab, wie sie gerade für den Klavierkämpfer Beethoven typisch waren. Schuberts Dramen sind aber nicht einfach nur aus einem weicheren Holz geschnitzt. Das in ihnen schlummernde Konfliktpotenzial zeigt sich in einem suggestiven (Un-)Ruhezustand, die B-Dur-Sonate gerät zum »Protokoll eines dissoziierenden Lebens, das sich mehr tastend als zugreifend verhält (Dieter Schnebel).« Allein von der satzdramaturgischen Anlage her musste Schubert dafür mit überkommenen Konventionen brechen. Statt das lyrisch Verhangene des Kopfsatzes (Molto moderato) mit einem schnellen zweiten Satz zu kontrastieren, hielt er an seinen bewegenden Gedankengängen fest. Mit einer hoch konzentrierten, mal extrem verinnerlichten, dann wieder mit offenem Visier kämpfenden Klangsprache, die den Lieder- und schließlich auch Leidenskomponisten Schubert ständig auftreten lässt. »Immer wieder hält die musikalische Zeit ihren Gang an, um selbstvergessen zu verweilen«, so noch einmal Dieter Schnebel in seinem wegweisenden Aufsatz »Schubert: Auf der Suche nach der befreiten Zeit« aus dem Jahr 1969. »Die Fermaten und die bangen Pausen der gestoppten Zeit wirken nicht weniger störend als die Triller. Sie tönen selten beschaulich, eher, als ob das Herz stockte. Das letzte große Werk, das Schubert wenige Wochen vor seinem Tod vollendete, zeichnet in seinem Zeitverlauf das Bild von Ermüdung und Resignation.«

Afanassiev und Horowitz - Befreite Zeit

Ob gerade der russische Pianist und bekennende Homme des Lettres Valery Afanassiev diese Wegbeschreibung als Passepartout für seine Schubertexegesen zur Hand genommen hat, ist nicht überliefert. Jedenfalls hat noch nicht einmal Afanassievs Vorbild Swjatoslaw Richter dem Herz-Rhythmus- System besonders der ersten beiden Sätze derart verstörend und zugleich faszinierend-erhellend auf den Puls gefühlt. Unter Afanassievs Slow-Motion-Händen zerbrechen hier jegliche Zeitstrukturen, wird selbst das ständige Staccato-Pochen in der Durchführung des ersten Satzes zu schauerlich stelenhaften Signalen. Und fast einem Donnerkeil gleich setzt Afanassiev den Oktavschlag zu Beginn des »Allegro man non troppo«, um bloß keine Nostalgie aufkommen zu lassen. Alles läuft vielmehr – trotz Robert Schumanns Versuch, hier etwas lieblich und freundlich Duftendes herauszuhören – auf eine handfeste Katastrophe zu. Vorher und danach hat keiner die ungeheuren Spannungen zwischen Stille und Nicht- Stille in diesem Drama in vier Akten so begriffen wie Afanassiev. Dass er sich hierfür alle Zeit der Welt lässt, zeigt sich allein im Quervergleich seiner zweiten Schuberteinspielung von 1997 mit der extremsportlichen, jedoch alle substanziellen Warnschilder ignorierenden Aufnahme von Vladimir Horowitz aus dem Jahr 1953. Die rund 31 Minuten, die Horowitz für die ganze Sonate benötigt, gönnt sich Afanassiev nahezu ausschließlich für den Kopfsatz – wobei er (wie auch schon bei seinem berühmten Livemitschnitt vom Lockenhaus-Festival 1985) den Notentext Schuberts nicht deformiert, sondern einfach bis in die letzten Poren ernst nimmt.

Richter, Pollini, Brendel - Ringen um Form

Eine ähnlich Zeit sprengende Monumentalität bei genauester Befolgung der Partitur garantierte stets auch Swjatoslaw Richter, der besonders mit seiner (scheinbar zurzeit gestrichenen) Melodiya-Aufnahme von 1972 die metaphysischen Kräfte in einer erdenschweren Meditation kondensieren und knospen ließ. Zu einem wahren Mausoleum geriet hingegen eine Liveaufnahme vom 9. Mai 1957, die in der Reihe »From the Archives« veröffentlicht wurde. An jenem Tag wurde in Moskau der Tag des Sieges im Zweiten Weltkrieg begangen. Und als ob Richter, dessen Spiel ansonsten jeglichen offiziellen Anlässen trotzen konnte, sich diesmal von der Stimmung dieses Gedenktages überwältigen ließ, spielte er die B-Dur-Sonate wie einen riesigen Abschiedsgruß an die gefallenen Soldaten. Mit einer selbst für ihn noch intensiveren Einkehr und Episierung machte er aus diesem an sich ja schon ernsten Kosmos eine erschütternde Erlebniswelt der tiefen Klüfte und bitteren Züge. Allein der Kopfsatz mit seinen 23 Minuten zieht sich in eine gedämpfte Stimmung des Leidens zurück, bei der noch nicht einmal das kurz aufflackernde, milde Melos auf bessere Zeiten hoffen lässt. Wenn Richter jemals Schubert auf Tuchfühlung mit Gustav Mahler gebracht hatte, dann war es an jenem Abend.
Auf absolute Texttreue setzte Maurizio Pollini – im Gegensatz zu einem Alfred Brendel, der einen freien Umgang gerade mit jenen notengetreuen Wiederholungen pflegte, die doch im Klavierwerk Schuberts das sisyphushafte Bemühen des Menschen widerspiegeln. Und so empfand er es als »besonderes Vergnügen«, auf die Wiederholung der Exposition des Kopfsatzes zu verzichten – »so ohne jede logische oder atmosphärische Beziehung steht dieser zuckende Ausbruch [die Überleitungstakte, d. A.] da, als hätte er sich aus einem fremden Stück in die großartige Harmonie dieses Satzes verirrt«. Ist diese Sichtweise kaum mit der von Pollini vereinbar, so treffen sich beide dann doch da, wo auf die musikalischen Entwicklungen im Sinne Beethovens geachtet wird (speziell trifft das auf das »Appassionata«-Drängen des Schlusssatzes zu). Verschmilzt bei Brendel dieses Prozesshafte mit einer raumgreifenden Nervosität, so gehört Pollinis Deutung aus den 1980er Jahren immer noch mit zu den klassizistisch modernsten Einspielungen. Wohl auch deshalb rückte Swjatoslaw Richter Pollinis Spiel in die Nähe von Prokofjew.

Alte Meister - Junge Talente

Umso altmeisterlicher muss man dagegen trotz der klangfarblichen Reize die Aufnahme von Wilhelm Kempff von 1967 empfinden. Und umso mehr fühlt man sich bei Pollini daran erinnert, dass es schon lange vor ihm und in den westlichen Schuberthemisphären einen Pianisten gegeben hat, dem musikalische Erfüllung mittels einer darstellerisch wie selbstverständlich daherkommenden Ausgewogenheit gelang. Es war Rudolf Serkin, der schon früh und dann immer wieder die Natürlichkeit bei Schubert in den Vordergrund stellte und auf jegliches Ringen verzichtete. Die 1975 eingespielte Aufnahme wurde somit nach zehn Jahren nicht einfach zu einer überfälligen Rückkehr zu Schubert – sie wurde ein vollkommenes Comeback selbst in den beiden oftmals leichtfertig hingelegten Sätzen Nr. 3 und 4. Hat diese Schubertsonate bis dahin und mit Beginn von Eduard Erdmann und Arthur Schnabel zahlreiche Häutungen mitgemacht, ist das letzte Wort bis heute selbstverständlich noch nicht gesprochen.
Bisweilen muss es eben nicht immer die A-Prominenz sein, die sich an »die dünn knisternde Hülle der Sonate« (Adorno) erfolgreich herantraut. Wie dies beispielsweise 2004 die Kubanerin Juana Zayas zeigt. Statt auf grüblerische Entmaterialisierung zu setzen, erweckt sie die B-Dur-Sonate durch pastorale Lichtschattierungen und Kantabilität. Zayas will nicht schwergewichten, sondern kann mit ihrer pianistisch-virtuosen Noblesse, ihrer intellektuellen Kontrolle und motorischen Distinktion schlicht die schlummernden Ausbrüche gerade rücken. Und dies ist weniger das Spektakuläre dieser Aufnahme als vielmehr das Imponierende. Aus einer ganz anderen Richtung kommt hingegen der in Köln lebende Pianist Michael Korstick. 2003 machte er mit seiner hintergründigen und erzählerisch so reichen Interpretation seinem Ruf als ein Ausnahmemusiker alle Ehre, der sich aller Schnelllebigkeit und Schnelligkeit widersetzt. Korstick nimmt sich stattdessen Zeit, macht sich Gedanken und kostet jeden Moment aus. Fast traumverloren wirken dann seine Deutungen der riesigen Dimensionen und Stimmungswechsel von Schubert. Die B-Dur-Sonate – ein heiliges und andächtig bestauntes Wunderwerk.
Solche Perspektiven sind dem Amerikaner Murray Perahia erwartungsgemäß eher fremd. Weshalb seine Einspielung von 2002 eine durch und durch unmanieristische Sichtweise mit allem bietet, was das Schubertherz im 21. Jahrhundert begehrt: exemplarisches Ebenmaß in der melodischen Diktion, dramatisch bestechende Dringlichkeit (Reprise des Andantino) sowie Tempi und Phrasierungen, die auf größere Zusammenhänge ausgerichtet sind. In der nahezu unüberschaubaren Flut von Schuberteinspielungen hat man jedoch nicht nur immer die Zukunft im Augenwinkel, sondern auch die Vergangenheit in Form der musikhistorischen Aufführungspraxis. Wer sich aber wie Andreas Staier an einen vierpedaligen, mit kerniger Fülle und sanfter Wärme ausgekleideten Hammerflügel aus dem Jahr 1825 setzt, der will nicht etwa falschen Sentimentalitäten und abgestandenen Schubertklischees verfallen. Mit seiner differenzierten, zarten und farblich reichen Anschlagskunst ist er vielmehr zum Seismograf jener zeitlosen Seelenbeben geworden, die Schubert zuhauf ausgelöst hat.

Die Favoriten:

Valery Afanassiev

ECM

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Swjatoslaw Richter

Praga CMX

Rudolf Serkin

Sony

Andreas Staier

Teldec

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Sehr gut bis gut:

Alfred Brendel

Philips

Wilhelm Kempff

DG

Michael Korstick

Ars Musici

Paul Lewis

harmonia mundi

Murray Perahia

Sony

Maurizio Pollini

DG

Swjatoslaw Richter

Preiser

Artur Rubinstein

RCA

Arthur Schnabel

EMI

Grigory Sokolov

Opus

Juana Zayas

Music & Arts

Christian Zacharias

EMI

Muss nicht sein:

Vladimir Horowitz

RCA

Guido Fischer, 21.06.2014, RONDO Ausgabe 1 / 2008



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