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N° 1354
20. - 30.04.2024

nächste Aktualisierung
am 27.04.2024



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Musik der Welt

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+ Unverfälschte Musikdokumente javanischer Gamelan-Musik von einst + Indo-Jazziges mit Charlie Mariano und dem Karnataka College of Percussion von heute +

Seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert fasziniert die Musik Javas westliche Ohren, mit ihrem Reichtum an ungewöhnlichen metallischen Klangfarben, ihrer Vielschichtigkeit, ihren eigentümlichen fünf- und siebentönigen Skalen sowie der improvisatorischen Fertigkeit der Instrumentalisten. Bei der Pariser Weltausstellung des Jahres 1889 begab sich Claude Debussy täglich zu den javanischen Hofmusikern und berichtete euphorisch, die javanische Musik verwende einen Kontrapunkt, der jenen Palestrinas als Kinderspiel erscheinen lasse, und erkannte, dass, verglichen mit ihrer Perkussionsmusik, die unsrige barbarischer Lärm sei. Heutige haben es leichter als Debussy, javanische Musik kennen zu lernen und können zwischen Dutzenden CDs wählen. Wie vor hunderten Jahren wird in Gamelanformationen gespielt, deren in handwerklichem Bronzeguss gefertigte Instrumente (diverse Gongs und Lamellofone) in jedem Dorf eine andere Stimmung aufweisen. Aber ist es noch die gleiche Musik? Mitnichten! Schon der bedeutende Musikethnologe Mantle Hood (1918–2005), dessen dreibändiges Werk »The Evolution of Javanese Gamelan« zu den Standardwerken der Musikwissenschaft gehört, erkannte, wie dramatisch die westlich geprägte Pädagogik der staatlichen Konservatorien die Musik im Laufe des 20. Jahrhunderts verändert hatte. Vor allem griff die akademische Kodifizierung mit ihrem Akzent auf dem Auswendiglernen von Musterbeispielen nachhaltig in die Art der Improvisation ein. (Ähnliches passierte im späten 20. Jahrhundert ja auch dem Jazz!) Mantle Hood wusste als Ausübender javanischer Musik, wovon er schrieb. Mit seinem Leitsatz «If you can’t play you can’t talk about” verärgerte er seine im Theoretischen verhafteten Kollegen. Vom Forschergeist getrieben, aber auch vom Eifer gepackt, das noch Unverfälschte festzuhalten, nahm er in den 50er Jahren über 80 Stunden Musik in Yogya, Solo und Bandung auf. Die mit einem 90-seitigen, wissenschaftlich fundierten Beibuch ausgestattete CD »Lestari – The Hood Collection« (Wergo/Note 1 SM 1712 2) bringt Beispiele. Man kann nur hoffen, dass nach und nach die übrigen 79 Stunden folgen. Hier sind wir dem, was einst Debussy hörte, noch ein Stückchen näher.
Es waren ausgerechnet Bopper, Vertreter einer recht unmeditativen, rastlos-großstädtischen Musik, heute über 70-, 80-jährige Bläser wie Charlie Mariano, Yusef Lateef, John Handy und der unlängst verstorbene Tony Scott, die nicht nur als erste im Jazz eine geistige und musikalische Nähe zu Asien empfanden, sondern heute noch zu den überzeugendsten Vertretern dessen wurden, was Berendt in den 60er Jahren Weltmusik taufte. Charlie Mariano ist wirklich beides auf Höchstniveau: ein an Charlie Parker geschulter, doch eigenständiger Jazzsaxofonist mit einem eindringlichen Sound und Weltmusiker der ersten Stunde. Der 83-Jährige lebte in Süd- und Ostasien, war mit der japanischen Jazzerin Toshiko Akiyoshi verheiratet, verband in der Gruppe Nassim arabische Musik mit Jazz und widmete sich der indischen Oboe Nagaswaram, die er offensichtlich wieder abgelegt hat. In jahrzehntelanger Kooperation mit dem Karnataka College of Percussion hat er Gipfelwerke der Indo-Jazz-Fusion vorgelegt, etwa das 1983er ECM-Album »Jyothi«. »Many Ways« der KCP 5 (Double Moon DMCHR 71506) zeigt, dass auch nach einem Vierteljahrhundert weder Routine noch Alter der gemeinsam entwickelten Musik Intensität und Gültigkeit nehmen können. Wie zu Beginn der Partnerschaft sind der karnatische Mridangam-Virtuose T. S. Mani und die ausdrucksstarke Sängerin und Hauptkomponistin Ramamani kongeniale Spielgefährten, doch sie sind dem Jazz näher gekommen: »Lazy Day« entpuppt sich als Blues! Ramesh Shotham ist seit Langem der vielseitige und viel beschäftige Perkussionist für solche Begegnungen. Der Keyboarder Mike Herting, der 1999 die Musik des Ensembles für Bigband arrangierte und seither seine Kenntnis südindischer Musik vertieft hat, setzt nun auch im Quintett, insbesondere durch die Harmonik, westlichere Akzente. Mariano hält sich etwas zurück, setzt mit seinem gelassenen altersweisen Altspiel Glanzpunkte.

Marcus A. Woelfle, 12.07.2014, RONDO Ausgabe 5 / 2007



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