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N° 1353
13. - 21.04.2024

nächste Aktualisierung
am 20.04.2024



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Achim Freyer

Bildtheater ist zum Kotzen

„Alice im Wunderland“ ist eine Geschichte voller skurriler, alptraumartiger Bilder. Die koreanische Komponistin Unsuk Chin hat sie für die Bayerische Staatsoper in Töne gesetzt. Der Maler und Bühnenkünstler Achim Freyer – über dessen Theaterarbeit im Herbst eine reichhaltige Bilddokumentation erscheint – wird das Stück inszenieren. Warum er das Buch eigentlich obszön und Bildertheater zum Kotzen findet und warum die Komponistin dennoch begeistert ist, fand Robert Fraunholzer heraus, der beide unabhängig voneinander interviewte.

RONDO: Herr Freyer, Sie wollten schon dreimal aufhören mit dem Inszenieren. Warum sind Sie immer zurückgekehrt?

Achim Freyer: Dreimal in meinem Leben dachte ich: „So, das hält jetzt mal fünf Jahre.“ Meine Arbeit ist nicht modisch. Doch dann haben Klaus Zehelein und Claus Peymann meine Stücke ganz rasch abgesetzt. Da hat mich der Ehrgeiz gepackt.

RONDO: Klingt, als hätten Sie eine Botschaft?

Freyer: Stimmt. Bloß: Wenn ich sie wüsste, würde ich sie aussprechen und vom Theater die Finger lassen. Ich bin ein zerrissener Bildermensch. Ich bin schmuddelig in meiner Arbeit und grau in meiner Sehnsucht. Grau ist für mich die Summe aller Farben. Aber „Bildertheater“ ist ein Ausdruck, den ich zum Kotzen finde. Bilder sind unbewegt. Theater ist immer in Bewegung.

RONDO: Warum inszenieren Sie so gern Uraufführungen?

Freyer: Das war Zufall. Philip Glass habe ich in den 70er Jahren einmal in Paris gehört. Für mich war das wie Großstadtverkehr. Ich war damals noch halber DDR-Bürger. Da war Avantgarde mein Ausweg. Als ich Dieter Schnebel und Mauricio Kagel im Radio hörte, fand ich schon die Namen so lustig. Henze und Rihm könnte ich nie aufführen. Da stört mich die Klassizität.

RONDO: Können Sie Partituren lesen?

Freyer: Nein, kann ich nicht. Aber ich sehe die Partituren sehr gern an, weil ich ein optischer Mensch bin.

RONDO: Haben Sie „Alice in Wonderland“ wegen des Stoffes gewählt?

Freyer: Das Buch kannte ich gar nicht. Ich hatte mit Kent Nagano in Los Angeles „Fausts Verdammnis“ gemacht. Danach wollte ich keine Oper mehr machen, höchstens mein Lieblingsstück „La Traviata“. Leider haben aber alle großen Opernhäuser schon eine „Traviata“. Da hat mir Kent Nagano Unsuk Chin empfohlen. Ich fand ihre Musik fantastisch und habe nicht nach dem Textbuch gefragt. Ich finde: Das Buch ist obszön und anzüglich dem Mädchen Alice gegenüber, was mich ärgert. Auch der Surrealismus von Lewis Carroll ist überholt.

RONDO: Haben Sie dann nicht ein Problem?

Freyer: Die Tragik besteht darin, dass Unsuk Chin genau die Texte vertont hat, mit denen ich meine größten Probleme habe. Aber: Texte sind kein Theater. Ich werde mit den Sängern keine großen Gänge und Handlungen inszenieren, sondern sie verfremden. Es sind traumartige Zustände, die anheben und wieder aufhören. Alice läuft bei mir keinem Kaninchen hinterher. Unsuk Chin ist begeistert.

RONDO: Man erkennt Ihre Theaterhandschrift sofort. Sind Sie sich gleich?

Freyer: Man erkennt mich sofort, weil ich der einzige bin, der überhaupt so weit geht. Ich halte nichts von Modernisierung. Zu erklären, was die Dinge heute noch bedeuten, finde ich ganz peinlich.

RONDO: Ist das Ihr Prinzip?

Freyer: Meine Grundidee besteht darin, dass für mich nicht eine menschliche Person auf der Bühne steht. Sondern eine Figur, die eine menschliche Person erzählt. Wenn ein Sänger glaubt, er müsse Don Giovanni sein, glaube ich ihm kein Wort. Das ist es vielleicht, was mich von den meisten meiner Kollegen unterscheidet.

RONDO: Ein Brecht’sches Erbe?

Freyer: Ja, das kommt von Brecht. Er war mein Meister. Ich habe selbst erst herausgefunden, dass er so wichtig war, als ich viel später durch meine Frau seine Schriften las. Mein Werk ist bis heute, obwohl es keine stilistische Ähnlichkeit mit Brecht hat, sehr eng mit ihm verwandt.

RONDO: War Brecht als Mensch derart suggestiv, dass man seinen Einfluss nicht merkte?

Freyer: Brecht war ein ungeheuer erotischer, aber schüchterner Mensch. Als ich ihm das erste Mal begegnete, wussten wir beide nicht, ob wir uns die Hand geben sollten. Es war ein endloses, verlegenes Hin und Her. Ich wollte Plakate machen für das Berliner Ensemble. Da sagte er: „Machen Sie doch Bühnenbild, werden Sie mein Schüler!“ Das war zu viel für mich.

RONDO: An der Berliner Staatsoper läuft Ihre Aufführung des „Barbier von Sevilla“ seit 1964. Wie finden Sie das?

Freyer: Na ja, es war meine erste Oper – als Bühnenbildner. Ruth Berghaus wäre fast einmal im Autobahngraben gelandet, weil wir uns so sehr gestritten hatten. Sie war trotzdem eine Oase in der DDR. Sie hätte mich nie denunziert.

RONDO: Sie wirken, alles in allem, sehr zufrieden. Täuscht das?

Freyer: Ich kann nicht sagen, dass ich ein Werk gemacht habe, für das ich mich schämen müsste. Ich will jedem Werk so dienen, dass es mich hundertprozentig verkörpern kann.

RONDO: Viele ehemalige DDR-Regisseure sind gegenüber Bühnenbildern unentschlossen. Warum?

Freyer: Das stimmt. Aber wie hätten Regisseure in der DDR ein Verhältnis zum Bild aufbauen sollen? Es gab keine Kunst in der DDR! So hart würde ich das sagen. John Heartfield oder Fritz Cremer, die sich für Kunst eingesetzt hatten, waren hilflos. Heinrich Ehmsen war verstummt. Wer gegenstandslos arbeitete, den kannte man nicht. Da hatten Paul Dessau und Hanns Eisler mehr Einfluss. Brecht und Hermlin ebenso. In der Bildenden Kunst gab’s niemanden. Eine Katastrophe.

RONDO: Bald inszenieren Sie in Los Angeles Wagners „Ring des Nibelungen“. Warum haben Sie sich damit so lange Zeit gelassen?

Freyer: Mir ist lange schlecht geworden von Wagner. Wenn die Rheintöchter anfingen zu singen, wurde mir immer übel. Das hat mit der starken Sexualität dieser Musik zu tun. Auch der Frühling war früher immer eine starke Herausforderung für mich. Ich fühlte mich richtig impotent dabei.

RONDO: Geht es jetzt besser damit?

Freyer: So paradox es klingt: Es ist mit den Jahren besser geworden.

Unsuk Chin: Träume von Alice

Was eine Komponistin so träumt: Unsuk Chin über Ligeti, Lampenfieber und schwimmende Konzerthallen.

RONDO: Frau Chin, haben Sie Lampenfieber, wenn Sie an Ihre erste Oper denken?

Unsuk Chin: Ja, schon. Ich frage mich, wie es klingt!

RONDO: Warum haben Sie ausgerechnet „Alice in Wonderland“ komponiert?

Chin: Mein Lehrer, György Ligeti, wollte lange Zeit eine Oper nach „Alice hinter den Spiegeln“ schreiben. Er konnte es nicht mehr realisieren. Da habe ich zugegriffen.

RONDO: Ist das Ihre Revanche für die Schaffenskrise, in die Ligeti Sie gestürzt hat?

Chin: Nein, denn ich bin dankbar dafür. Ich war jung und naiv als ich aus Korea kam. Ligeti sagte mir, ich solle alles zerreißen und etwas ganz anderes versuchen. Er hatte die ganze Neue-Musik-Szene satt. Heute komponiere ich anders. Nicht mehr seriell.

RONDO: Kent Nagano hat Sie entdeckt. Braucht man so jemanden?

Chin: Kent Nagano ist für mich wie ein Lottogewinn. In Deutschland hatte ich vorher 13 Jahre lang keine einzige Aufführung. Er sprach mich an, ich kannte ihn nicht persönlich.

RONDO: Sie setzen angeblich Ihre Träume in Musik um. Was träumen Sie so?

Chin: Viel Licht und Farbe. Kürzlich habe ich von einem Schiff in der Form der Hamburger Elbphilharmonie geträumt, das auf mich zugesegelt kam. Es hat mich zu einem schönen Garten gebracht. Von Konzerthallen träume ich sonst nur, wenn ein Abgabetermin naht. Dann wache ich jedes Mal schweißgebadet auf.

RONDO: Wie viel kann man am Tag komponieren?

Chin: Es kommt vor, dass man für zwölf Sekunden eine Woche braucht. Ich arbeite normalerweise bis drei Uhr nachts. Als ich noch kein Kind hatte, habe ich ständig gearbeitet. An „Alice in Wonderland“ insgesamt drei Jahre.

RONDO: Können Sie von Ihrem Beruf leben?

Chin: 15 Jahre lang war es schwierig. Seit einigen Jahren geht es. Mein Leben ist bescheiden. Ich kann einmal pro Woche essen gehen. Im Moment ernähre ich sogar die Familie.

RONDO: Reicht es, wenn Sie ein Stück pro Jahr verkaufen?

Chin: Nein, aber ich habe vor einigen Jahren einen großen Preis gewonnen. Die Jury weiß, dass Komponisten mit Geld überhaupt nicht umgehen können. Daher wird der Preis in fünf Raten ausgezahlt. Sonst hätte ich das Geld schon verjubelt. Für Kollegen, die mehr brauchen als ich. (Interview: Robert Fraunholzer)

Unsuk Chin: „Alice in Wonderland“ ML: Kent Nagano, R: Achim Freyer. Uraufführung an der Bayerischen Staatsoper am 30. Juni 2007

Robert Fraunholzer, 09.08.2014, RONDO Ausgabe 3 / 2007



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