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N° 1354
20.04. - 01.05.2024

nächste Aktualisierung
am 27.04.2024



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Daniel Barenboim

Mahler-Theater

Daniel Barenboim über seinen späten Weg zu Mahler, Israels Intelligenz und den Ausweg aus der Berliner Opernkrise. RONDO-Autor Robert Fraunholzer sprach den nimmermüden Pianisten und Dirigenten kurz vor einer Konzertaufführung in der Berliner Philharmonie.

RONDO: Herr Barenboim, warum haben Sie mit Ihrem Mahlerzyklus so viele Jahre gewartet?

Daniel Barenboim: Mich hat bei Mahler immer gestört, dass man nie auf musikalische Weise von ihm spricht. Bei ihm ist immer gleich von Schizophrenie, Sigmund Freud und Wien die Rede. In Bezug auf die Musik spricht man höchstens von seinen Anklängen an jüdische Klezmermusik. Das ist mir zu wenig.

RONDO: Was ist für Sie das Entscheidende an Mahler?

Barenboim: Sein Handwerk. Mahler war der erste Komponist, der die Dynamik des Orchesters aufgeschlüsselt hat. Bei Beethoven und Brahms, sogar bei Wagner stehen Angaben wie „Crescendo“ oder „Diminuendo“ immer über der ganzen Partitur. Es ist dann die Aufgabe des Dirigenten zu ordnen. Wenn alle gleichermaßen Crescendo spielen, hätte die zweite Flöte keine Chance, gegen die Posaunen durchzukommen. Bei Mahler ist das anders. Musiker, die bei ihm auf die Dynamik der anderen achten, verlieren die Orientierung. Mahler war Dirigent. Da liegt für mich sein Geheimnis.

RONDO: Klingt deshalb Ihr Mahler so stark nach Theater?

Barenboim: Ich habe mir einmal in Wien Mahlers eigene „Tristan“-Partitur angeschaut. Ich erwartete musikalische Offenbarungen. Aber er hat lediglich durch die ganze Partitur hindurch notiert, wie laut welches Instrument zum Beispiel bei einem Fortissimo spielen soll. Er war Theaterpraktiker, das muss man seiner Musik anhören, finde ich.

RONDO: Sie gelten als großer Verehrer Wilhelm Furtwänglers. Der aber war kein Mahlerdirigent.

Barenboim: Furtwänglers Vorbehalte gegenüber Mahler kann ich sogar nachvollziehen. Mahler galt damals als billige Musik, noch dazu als jüdisch. Das hat der Musik nicht geholfen. Furtwängler hat allerdings Mahlers 3. Sinfonie und auch die Lieder dirigiert.

RONDO: Spielt das Jüdische bei Mahler für Sie eine Rolle?

Barenboim: Nein, im Gegenteil. Die Wandermusik bei Mahler, seine Zitate, haben mich immer gestört. Ähnlich wie Furtwängler und Celibidache, der niemals Mahler dirigierte. Celibidache hat mir einmal gesagt: „Bei Mahler sind die Empfindungen unecht, deswegen kommen sie immer nur als Zitat.“ Bis vor einiger Zeit waren alle Dirigenten entweder auf Bruckner oder auf Mahler spezialisiert. Leonard Bernstein etwa hat viel Mahler, aber nur die Neunte von Bruckner dirigiert.

RONDO: Hat er Ihnen erzählt, weshalb?

Barenboim: Oh, ja. Ich werde es nie vergessen: In Boston kam er einmal nach einem Konzert von mir mit Bruckners Neunter hinter die Bühne und war sehr aufgeregt. Ich habe ihn gefragt: „Warum dirigierst du eigentlich von Bruckner nur die Neunte?“ Er sagte: „Der Rest taugt nichts.“ Daraufhin setzte er sich ans Klavier, um praktisch den ganzen ersten Satz der Achten von Bruckner auswendig zu spielen. An jeder möglichen Stelle sagte er zu mir: „Das gefällt mir nicht.“ Er kannte das Stück in und auswendig.

" Die Zukunft bleibt hypothetisch."

RONDO: Was glauben Sie, wohin Sie sich selbst musikalisch entwickeln werden? Zu einem milden alten Mann oder zu einem zornigen?

Barenboim: Vielleicht werde ich überhaupt nicht alt? Der späte Schönberg hat immer gedacht, in 50 Jahren würden die Leute seine Melodien pfeifen, als seien sie von Johann Strauß. Der Schriftsteller Milan Kundera hat daraufhin geschrieben: „Ich glaube, Schönberg hat sich nicht selbst überschätzt, sondern die Zukunft.“ Die Zukunft bleibt hypothetisch.

RONDO: Vor einem Jahr haben Sie – sehr optimistisch – gesagt, noch vor Jahresfrist könne der Staat Israel ein Zeichen der Versöhnung gegenüber den Palästinensern setzen. Wie steht es heute um Ihren Optimismus?

Barenboim: Ich bin kurzfristig pessimistisch, aber langfristig optimistisch. Wäre es anders, so flögen wir alle in die Luft. Ein echter Krieg wäre das Ende von allem. Von Israel ebenso wie von den Palästinensern.

RONDO: Was wäre aus Ihrer Sicht der nächste Schritt?

Barenboim: Ich glaube, dass auf palästinensischer Seite eine nationale Regierung kommen muss. In Israel sehe ich keine Persönlichkeit, auch kaum Bereitschaft, die in der Lage wäre, eine politische Lösung herbeizuführen. In Israel gibt es keine einzige Partei, die mich in meinem Friedenswunsch repräsentieren kann. Ich frage mich ernsthaft: Wo ist die jüdische Intelligenz?! Seit 60 Jahren funktioniert die israelische Taktik nicht. Wir sagen doch auch im Privaten: Wenn etwas nicht funktioniert, versuchen wir etwas anderes! Wer eine Broccoli-Allergie hat, vermeidet Broccoli. So einfach ist das.

RONDO: Klingt ziemlich desillusioniert?

Barenboim: Ich habe viele Jahre lang die Idee abgelehnt, dass man von außen auf diesen Konflikt einwirken soll. Aber ich sehe mehr und mehr, dass ich mich geirrt habe. Eine Lösung kann nur von außen kommen, und zwar aus Europa. Israelische Regierungen haben sich immer gegen Europa und für Amerika ausgesprochen. Obwohl Israel wirtschaftlich viel mehr mit Europa zu tun hat. Die blinde Unterstützung Israels, so wie wir sie jetzt haben, ist weder im Interesse Europas, Amerikas noch – langfristig gesehen – Israels selbst. Druck bringt auch nichts. Man muss die Leute aufklären.

RONDO: Worüber?

Barenboim: Die Israelis haben nicht begriffen, dass man sie kritisieren darf, ohne sich damit des Antisemitismus schuldig zu machen. Zur Zeit der Judenverfolgung in Deutschland und anderswo waren die Juden eine Minderheit. Israel aber ist ein souveräner Staat. Verantwortlich für sich selbst. Das ist erstmals so seit 2.000 Jahren. Das haben wir noch nicht kapiert.

RONDO: Auch in Berlin haben wir eine ganz andersartige, aber doch eine Art Krisensituation. Wie steht es hier mit Ihrem Optimismus?

Barenboim: Die Uhr steht auf vier vor zwölf. Bei den Berliner Opern aber handelt es sich um ein reines Finanzproblem. Alles übrige sind Vorwände und Versuche, das Problem zu verschieben. Es hat keinen Sinn mehr, darüber öffentlich zu diskutieren. Die Verantwortlichen müssen es in Ruhe und Vertraulichkeit besprechen. Die Frage, ob es auf eine Übernahme durch den Bund hinausläuft, ist zweitrangig. Es geht überhaupt nicht um die Staatsoper. Sondern es geht um alle drei Häuser.

RONDO: Geht es dabei nur um Geld?

Barenboim: Ich glaube, dass inzwischen alle anerkannt haben, dass man drei Opern auf internationalem Niveau nicht mit den zur Verfügung stehenden Mitteln halten kann. Diese Erkenntnis halte ich für einen Fortschritt, denn sie bedeutet: Wir haben am falschen Ende gespart.

RONDO: Sind Sie selbst mit Ihrer Lebensphilosophie, die darin besteht, nicht zu spekulieren, sondern lieber etwas zu tun, glücklich geworden?

Barenboim: Ich bin im Moment sehr glücklich. Ich habe ein fantastisches Orchester. Die Auffassung, nicht zu reden, sondern lieber zu handeln, war in jedem Fall der Sinn unserer Musikkindergärten in Berlin, Sevilla und Israel. Und es war auch die Idee beim West-Eastern Divan Orchester. Eigentlich war es der Sinn aller Sachen, die ich gemacht habe.

RONDO: Klingt wie eine Einstellung, mit der einem alles gelingen kann. Ist Ihnen alles gelungen?

Barenboim: Nein. Aber ich habe noch Zeit.

Neu erschienen:

Gustav Mahler

Sinfonie Nr. 7, Sinfonie Nr. 9

Staatskapelle Berlin, Daniel Barenboim

Warner

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Robert Fraunholzer, 13.09.2014, RONDO Ausgabe 1 / 2007



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