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N° 1353
13. - 24.04.2024

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am 20.04.2024



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Von Herzen zu Herzen

Das Phänomen einer „folklore imaginaire“, einer Folklore als Wille und Vorstellung, ist nicht nur eine französische oder europäische Angelegenheit. Der persische Streichlautenvirtuose Kayhan Kalhor ist ein gutes Beispiel dafür. Die Geschichte und somit auch die Musikgeschichte Persiens und Nordindiens sind eng miteinander verbunden; bisher hat Kalhor dieser Beziehung nachgespürt. Weniger bekannt sind die Wechselbeziehungen zwischen der Musik Persiens und der der Türkei. Während in Persien ähnlich wie in Nordindien der Improvisation eine überragende Rolle zukommt, hat sich die türkische Musik in Richtung strenger Komposition entwickelt. Jetzt hat Kayhan Kalhor den türkischen Baglamavirtuosen Erdal Erzincan herausgefordert, mit ihm zusammen die alte Improvisationstradition wieder zu entdecken. In einer zwölfsätzigen Suite umspielen sich Kamancheh (die Streichlaute oder Stechgeige) und die dreisaitige, lautenartige Baglama in immer neuen Variationen. Mit einer Divan Baglama, dem Bassinstrument, setzt Ulas Özdemir diskret lakonisch stützende Tupfer. Was zunächst weitläufig repetitiv anmutet, wird letztendlich zu einem fast spirituellen Erlebnis. (Kayhan Kalhor/Erdal Erzincan: The Wind. ECM/Universal 985 6354).
Aus Persien kommt auch die Sängerin und Harfenistin Asita Hamidi. Sie lebt in der Schweiz, und zusammen mit der schwedischen World-Music-Folk- Rock-Gruppe des Bassisten Björn Meyer macht sie eine mitreißende Musik, die mit ihrem schwärmerischen europäischen Multikultiverständnis auch herzerweichende Melodien nicht scheut und den Sound, für den einst die Ofarims standen – ein Schelm, wer Böses dabei denkt –, in dieses Jahrhundert übersetzt. Die neueste Produktion von Asita Hamidi präsentiert in Live- Mitschnitten die Höhepunkte ihrer Wintertournee 2005/2006, bei der sie mit ihrem Bazaar die Säle regelmäßig zu Beifallsstürmen hinriss. (Asita Hamidi’s Bazaar Live. Unit Records/Sunny Moon UTR 4185).
Lebendige und ganz und gar nicht imaginäre Folklore wird mit dem Fado in Portugal gepflegt. Puristen mögen vielleicht die Zuordnung des professionellen Fado zur Folklore für fragwürdig erachten, doch die Kraft, mit der sich dieses Genre immer wieder erneuert und neue Interpretinnen findet, spricht für sich. Freunden des französischen Chansons in der Tradition einer Barbara, die oft seelenverwandt ähnliche Stimmungen und Inhalte beschwor, beschleicht große Wehmut, wenn sie die junge Portugiesin Ana Moura hören. Was bei unseren un mittelbaren Nachbarn mit Barbara endgültig verstummt erscheint, wird von dieser hinreißenden Frau aus dem portugiesischen Santarem mit Verve und unter die Haut gehender suggestiver Kraft auf ihrem neuen Album beschworen: die schmerzliche Seite der Liebe, die allein in der Poesie sich auszudrücken vermag. In den Gitarristen José Manuel Neto und Jorge Fernando hat Ana Moura kongeniale Partner, und das Booklet erlaubt mit den Übersetzungen der Texte ins Englische auch die sprachlichen Nuancen der Stimmungen zu goutieren. (Ana Moura: Aconteceu. World Village/harmonia mundi 468053).

Thomas Fitterling, 13.09.2014, RONDO Ausgabe 1 / 2007



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