home

N° 1353
13. - 21.04.2024

nächste Aktualisierung
am 20.04.2024



Startseite · Klavierklassiker

Klavierklassiker

Kulturanschlag auf die Anschlagskultur

Wer sich rauschende Dokumente aus ferner Vergangenheit antut, ist nicht selten getrieben von der Neugier, zu erfahren, wie etwa Chopin oder Liszt gespielt haben könnten. Manche »Quellen« mögen trügerisch sein, aber es gibt tatsächlich diese seltenen, glaubhaften Botschafter aus einer verstummten Epoche. Moriz Rosenthal, 1862 geboren, nahm Unterricht bei Mikuli, dem Schüler Chopins. Sein zweiter Lehrer war dann Liszt selbst... Als sei das nicht Glücks genug, sind schon seine frühesten Aufnahmen, Walzer und Mazurken von 1928, von verblüffender Klangqualität (und phänomenal remastered). Die Botschaft aus der Vergangenheit verlangte eine ausführliche Übersetzung. Von der Konzeption des Chopinschen Rubatos über die Phrasierung bis zu den unerhört freien inneren Temporelationen begegnet man einer verlorenen Welt, bezaubernd und auch etwas fremdartig.

Moriz Rosenthal – The Complete Recordings

APR/Codaex

Als JPC- und Amazon-Partner verdienen wir an qualifizierten Verkäufen.

Noch abenteuerlicher sind die verwehten Tonspuren des »Mysteriums von Kairo«. Ignaz Tiegerman, exzentrischer Schüler des großen Virtuosenschmiedes Leschetitzky, strandete 1933 auf der Flucht vor den Nazis in Ägypten, wo er ein weltabgewandtes Salonleben aufnahm, als sei die Belle époque noch nicht ganz vorüber. Er ging nie wieder fort, unterrichtete höhere Töchter und vollverschleierte Musliminnen, ertrug tutende und kratzende ägyptische Orchester – eins überrolte er mit seinem »Powerplay« im zweiten Brahmskonzert förmlich –, oder warf für staunende Besucher lässig die Terzenetüde auf elendem Flügel hin. Durch den Schleier des Rundfunkrauschens samt arabischer Wortfetzen muss sich unser Hören eine Chopinsche h-Moll-Sonate rekonstruieren, deren alles mitreißender Elan uns die Schrecken eines zerstörten Klangbildes irgendwann vergessen lässt. Einiges, etwa eine schlichtweg vollkommene Version des Brahmsschen h-Moll-Capriccios, ist auch für den Nicht-Archäologen eine Freude.

Masters of Chopin

Arbiter/Musikwelt

Als JPC- und Amazon-Partner verdienen wir an qualifizierten Verkäufen.

Als hätte die EMI es geahnt, wurde diese Sammlung zum Denkmal für den kürzlich verstorbenen Alexis Weissenberg. Es ist eigenartig, dass Weissenbergs Kunst in ihrer alles Sentiment provozierend ausbrennenden Schärfe und Schnörkellosigkeit, ihrer architektonischen Klarheit und ihrem raubtierhaften Zugriff in einer Epoche, in der Neo-Plüsch à la Lang Lang wieder in Mode ist, ihr kühles Verstörungspotential bewahrt hat, das die Kritiker damals so in Rage brachte. Wir haben Gelegenheit, es als Qualität wiederzuentdecken in pianistisch wie aufnahmetechnisch einsamen Gipfelleistungen wie Rachmaninoffs Zweitem und den Franck-Variationen, sekundiert von Karajan und den Berlinern.

Icon - Alexis Weissenberg

EMI

Als JPC- und Amazon-Partner verdienen wir an qualifizierten Verkäufen.

Eine überraschende Zugabe: Wussten sie, dass Dirigentenlegende Bruno Walter ein fabelhafter Pianist war? Unerhört herrisch peitschte er 1938 die Wiener Philharmoniker durch das d-Moll-Konzert von Mozart, das er vom Flügel aus leitete. Eine Art »Urszene« für dirigierende Spieler. Einen solchen Finale-Reißer legte aber keiner wieder hin.

Icon – Bruno Walter

EMI

Als JPC- und Amazon-Partner verdienen wir an qualifizierten Verkäufen.

Matthias Kornemann, 30.11.1999, RONDO Ausgabe 3 / 2012



Kommentare

Kommentar posten

Für diesen Artikel gibt es noch keine Kommentare.


Das könnte Sie auch interessieren

Café Imperial

Eigentlich hatte er Verdis „Falstaff“ dirigieren wollen. Da ihm das Theater an der Wien eine so […]
zum Artikel

Festival

Kammeroper Schloss Rheinsberg

Die Liebe auf dem Lande

Bei diesem brandenburgischen Stimmenfestival empfehlen sich frischgekürte Opernsänger für die […]
zum Artikel

Gefragt

Ophélie Gaillard

Fein schattiert

Nach Strauss geht es für die Cellistin wieder rückwärts in der Zeit: zu Vivaldi und seinen […]
zum Artikel


Abo

Top