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RONDO: Herr Zimerman, in den letzten fünfzehn Jahren ist gerade mal eine Hand voll Aufnahmen mit Ihnen erschienen – obwohl Sie eigentlich alles einspielen könnten, wozu Sie Lust hätten.
Krystian Zimerman: Ja, auch jetzt sitze ich wieder seit einer Woche im Aufnahmestudio – und ich weiß jetzt schon, dass das Ergebnis nie veröffentlicht werden wird. Die letzten Schubert-Sonaten habe ich schon drei Mal aufgenommen, aber keines dieser Bänder werde ich jemals freigeben.
RONDO: Warum gehen Sie dann überhaupt noch ins Studio?
Zimerman: Aus dem gleichen Grund, aus dem ich Konzerte gebe. Wenn ich ein Werk erarbeite und das Gefühl habe, da wird was Schönes draus, dann will ich das auch mitteilen. Aber wenn ich allein im Aufnahmestudio sitze und darauf warte, dass das rote Lämpchen aufleuchtet, frage ich mich immer wieder: „Warum machst Du das eigentlich?“ Das ist doch so, als ob man vor einem Spiegel steht und die Worte „Ich liebe Dich“ sagt, während man gleichzeitig zuschaut, wie sich die Lippen bewegen.
RONDO: Durch die Konservierung verliert die Musik also ihren Zauber?
Zimerman: Wir müssen uns doch zuerst fragen, was wir überhaupt spielen: Spielen wir Klavier, spielen wir die Noten, spielen wir Brahms, oder spielen wir uns selbst? Ich glaube, wir spielen den Grund, weshalb Brahms ein bestimmtes Stück geschrieben hat, die Emotionen, die ihn dabei bewegten. Und in der Aufnahme quetschen wir diese Emotionen auf eine CD – mit der Gefahr, dass die Musik zur bloßen Tonkunst verkommt: Was zählt, sind dann nur noch der Klang und die richtigen Noten, nicht mehr die emotionale Botschaft.
RONDO: Mit diesem Phänomen sind die Musiker aber schon seit über hundert Jahren konfrontiert.
Zimerman: Stimmt, die Erfindung der Fonografie hat unser Bewusstsein von Musik verändert und dazu geführt, dass der Klang die Musik erdrückt. Sie hören den Unterschied zum Beispiel deutlich zwischen den frühen und den späten Aufnahmen Arthur Rubinsteins: Später spielt er zwar alle Noten, aber früher war der Ausdruck das Wesentliche und die Noten waren eher der Ausgangspunkt für eine improvisatorische Annäherung an die Idee des Werks. Ich habe mir vorgenommen, im nächsten Jahr ein Buch darüber zu schreiben, wie die Fonografie unser Leben verändert hat. Den Titel habe ich übrigens schon: Es wird „Die Unterhose der Mona Lisa“ heißen.
RONDO: Wieso das?
Zimerman: Weil eine Aufnahme das Gleiche ist, wie wenn man die Mona Lisa ausziehen würde und dabei feststellt, dass ihre Unterhose schmutzig ist. Dabei kommt es gar nicht auf ihre Unterhose an, sondern auf ihr Lächeln.
RONDO: Ihre letzten CDs waren sämtlich Konzerteinspielungen. Fällt Ihnen das Aufnehmen mit Orchester leichter?
Zimerman: Nun, bis ich den Rachmaninow freigegeben habe, hat es immerhin auch sieben Jahre gedauert. Das war ein ziemlicher Kampf mit der Deutschen Grammophon. Aber es stimmt: Wenn ich eine Person habe, mit der ich spiele, die meine Emotionen abnimmt und zurückgibt, ist das Aufnehmen für mich leichter. Ich gebe ja auch Konzerte, weil ich dort ein Gegenüber habe. Ich brauche sogar das Publikum, seine Präsenz löst bei mit etwas aus, was ich zuhause oder im Studio nie erreiche. Manche Stücke spiele ich übrigens erst im Konzert zum ersten Mal ganz.
RONDO: Wenn es darauf ankommt, die Emotionen des Komponisten nachzuempfinden, wäre es nicht besser, gleich zu Instrumenten der Entstehungszeit zu greifen?
Zimerman: In der Theorie schon. Aber die Komponisten der Klassik und Romantik schrieben ihre Musik für kleine Räume und für Instrumente mit kurzen Tönen und nicht für heutige Konzertbedingungen. Auch deshalb ist unsere Aufgabe heute so schwer geworden. Was auf dem Hammerflügel leicht zu spielen war, ist auf dem Konzertflügel ein Problem. Nehmen Sie Brahms’ erstes Klavierkonzert: Brahms konnte sich erlauben, im Bass dichte Akkorde zu schreiben, weil die auf seinem Instrument nichts erdrückt haben. Ich dagegen musste lange nach einem adäquaten Flügel suchen, der mit modernen Mitteln den gleichen Effekt erzielt.
RONDO: Sind Sie eigentlich mit sich zufrieden?
Zimerman: Ich stelle mir immer wieder die Frage: Wenn heute der letzte Tag deines Lebens wäre, würdest du etwas anders machen? Als Antwort darauf nehme ich mir mehr Freiheiten: Im nächsten Jahr werde ich fünfzig, da werde ich ein Jahr lang nur das machen, wozu ich Lust habe, Kammermusik, Konzerte geben, bei denen ich am Tag vorher noch nicht weiß, was ich spielen werde – und natürlich „Die Unterhose der Mona Lisa“ schreiben.
DG/Universal
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