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N° 1353
13. - 24.04.2024

nächste Aktualisierung
am 20.04.2024



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Hörtest

Telemann: "Nouveaux Quatuors"

Beim Höflichkeitsbesuch an der Seine wird Georg Philipp Telemann von seinem Weltruhm eingeholt. Ganz wie geplant.

"Die bewunderswürdige Art, mit welcher die Quartette von den Herren Blavet, Traversisten, Guignon, Violinisten, Forcroy dem Sohn (= Fourqueray, Anm.), Gambisten, und Edouard, Violoncellisten gespielet wurden, verdiente, wenn Worte zulänglich wären, hier einer Beschreibung. Gnug, sie machte die Ohren des Hofes und der Stadt ungewöhnlich aufmercksam, und erwarben mir, in kurzer Zeit, eine fast allgemeine Ehre, welche mit gehäuffter Höflichkeit begleitet war.“ Stolz beschreibt Georg Philipp Telemann hier den Erfolg, den ihm seine Flötenquartette in seiner Gegenwart im Pariser Konzert bescherten. Schon 1730 hatte sich Telemann in dieser Besetzung versucht: Seinen sechs Hamburger „Quadri“ für Flöte, Violine, Gambe und Basso continuo sollte man aber nicht mit der Vorstellung eines Quartetts begegnen, die die Wiener Klassik später geprägt hat. Kunstvoll waren sie allemal, denn sie erweiterten die landläufige Triosonate zu einem „Kammerkonzert“ von drei solistischen Instrumenten über Generalbass. Johann Joachim Quantz nannte diese Besetzung in seinem „Versuch einer Anleitung die Flute traversière zu spielen“ von 1752 ehrfurchtsvoll den „Probierstein eines ächten Contrapunctisten.“ Telemann, der dafür bekannt war, italienisches Feuer und französische Eleganz, die beiden Pole europäischer Musikanschauung, zum so genannten „vermischten Geschmack“ zu versöhnen, liefert seine Quartette gleich in drei internationalen Varianten: zwei (italienische) Concerti, zwei (französische) Suiten und zwei (deutsche) Sonaten. Als „Six Quatuors“ lässt er sie 1736 vom berühmten Verleger Le Clerq in Paris neu herausgeben, wo seine Tafelmusik bekannt ist – und auch die Quartette großen Beifall finden. Die Antwort des berühmten Flötisten Blavet und seiner Freunde, Telemann möge seinen Werken an die Seine folgen, lässt nicht lange auf sich warten. Schon im Folgejahr macht er sich auf die Reise.

Ihr wollt es? Ihr kriegt es!

Und er stillt den Hunger, den er so klug geschürt hat: Während seines achtmonatigen Aufenthalts komponiert und veröffentlicht er in Paris einen Nachschlag für die Fangemeinde. Die Subskriptionsliste umfasst 237 Namen, darunter auch einen M. Bach de Leipzig, denn Telemann selbst hatte die Latte mit den „Quadri“ hoch gehängt, und man erwartete, dass er unter den Augen der Pariser Öffentlichkeit eine, wenn nicht sogar die wichtigste Kammermusikkomposition der Dekade präsentieren würde. Und er enttäuschte nicht. Natürlich kommen die Werke, die er in Anlehnung an die Vorgänger „Nouveaux Quatuors“, neue Quartette nennt, auch sogleich zur Aufführung. In den Concerts spirituels, der bedeutendsten Konzertreihe des Ancien régime, stellt sich Telemann in einer All-Star-Besetzung dem Urteil des Publikums.
Worin Mozart scheiterte und was Haydn erst im Alter vergönnt war, schafft Telemann, angefacht durch kluges Marketing, mit 56 Jahren. Das Konzert, von dessen Atmosphäre und Wirkung er im eingangs zitierten, seiner dritten Autobiografie von 1739 entnommenen Abschnitt berichtet, macht ihn mit einem Schlag zum Stadtgespräch an der Seine – auch über die Grenzen der Fachwelt hinaus, die ihn eingeladen hatte. Jetzt weiß er sich des Hofes, an dem nun ebenfalls Konzerte seiner Werke gegeben werden, und des gehobenen Bürgertums sicher. Ein geschickt eingefädelter Überraschungserfolg, könnte man sagen.

Weltenbürger Telemann

Und einer der überragenden Stilbeherrschung. Denn Telemann lässt natürlich gehörig Pariser Luft durch die „Neuen Quartette“ ventilieren. Es gibt auch keinen Formenkatalog mehr, alle sechs Werke huldigen der französischen Idealgestalt der Suite, und Telemann verwandelt die an sich schon etwas gealterten Tänze Courante, Loure, Menuett, Gigue und Passepied wieder in aufregend spritzige Juwelen, während die Instrumente nach französischem Geschmack elegant miteinander parlieren: Der strenge Satz der Hamburger Quartette ist passé, vielmehr prägen die Klangsinnlichkeit des französischen Stils, bei auch mal parallel geführten Stimmen, reichen Verzierungen und federnden Rhythmen die Kompositionen. Wie im Gespräch tauschen die Oberstimmen die Rollen, scheint sich die musikalische Szenerie in immer neuen Klangfarben zu brechen, so wie einst die Konzertgesellschaft in den facettierten Rokokospiegeln. Der Magdeburger zeigt, dass er es im Ideal des galanten Weltmannes, in Witz, musiksprachlicher Eloquenz, gewandter Formenvielfalt und im Esprit der Melodie mit der Elite von Paris aufnehmen kann. Und dafür bescheren im die Pariser den größten Erfolg seines Lebens.
Ein kurzer Erfolg, denn die Nachwelt versuchte schon bald – auch aus ideologischen Gründen – den beflissenen Kontrapunktiker und Kantor Bach gegen den Lebemann und Tulpensammler Telemann auszuspielen. Geradezu belegt wurde der Eindruck des schludrigen Vielschreibers dadurch, dass lange Zeit uninspirierte Profis und rührige Laienmusiker durch Geradtaktigkeit und lahme Tempi seine exquisiten Petits fours zu eintönigem Knödelteig zerkauten – nicht zuletzt in den Ohren derjenigen, die an alles die Elle Beethovenscher Themenarbeit anzulegen gewohnt waren. Denn wie der Wiener Walzer erst durch die leicht vorgezogene zweite Zählzeit zu Drehen beginnt, steht der Kniff bei Telemann nicht in den Noten, sondern liegt im Quäntchen lässiger Freiheit, im Spiel mit leicht aufgeknöpftem Hemdkragen – das sich eben nur ein über Zweifel erhabener Virtuose und Könner erlauben darf.

Noble Zurückhaltung oder Leidenschaft mit Biss

Als Familienprojekt traten 1997 die drei Kuijken-Brüder an. Das erinnert schon stark an die Solistenbesetzung aus Telemanns Chronik. Und entsprechend selbstbewusst ist das Herangehen, auch klanglich: Zu Bartholds klarem, offenen Flötenton gesellen sich Sigiswald an der Violine und Wieland mit erdigem, körperreichen Klang und herrlichen Bebungen auf der Gambe. Das Cembalo Gustav Leonharts ergänzt vollgriffig und präsent. Aus gleichberechtigten Instrumenten entsteht hier ein dichtes, etwas metallisches Klangbild bei straffen Tempi: nach wie vor tadellos. Auch das Ensemble Florilegium behandelt alle Instrumentalisten gleichberechtigt. Vielleicht liegt es an der Ausführung durch fünf Musiker (mit verstärktem Bassregister), dass die Flöte manchmal Mühe hat, vielleicht auch an ihrem zwar warmen, aber leicht hauchigen Klang. Die Aufnahme wirkt fein schattiert und etwas in den Raum entrückt – für die SACD-Wiedergabe ist das sogar ideal. Ungemein edles, geschmackvoll verzierendes, ausgeformtes Musizieren, dabei auf diplomatische Art etwas gebremst. Manchmal fehlt dadurch ein bisschen der Zug, aber das ist Kritik auf hohem Niveau: Die richtige Aufnahme für einen versonnenen Nachmittag beim Tee, Champagner dazu würde man als übertrieben empfinden.
Im direkten Vergleich mit den vornehmen Schwankungen und Zweifeln von Florilegium wirken die Quartette bei John Holloway, Linde Brunmayr-Tutz und Lorenz Duftschmid geradezu mechanisch. Alle sind auch hörbar Meister ihres Instruments, es fehlt nicht an (wenn auch zurückhaltend platzierten) Steigerungen und Portamenti. Aber es beschleicht einen das Gefühl, sie hätten nach der Hochschule gemeinsam noch eine Uhrmacherlehre für diese Aufnahme absolviert, so kerzengerade blättern sie durch die Werke. Statt frei atmender Brust nur tantenhaft zugeknöpfte Blusen. Deutlich leidenschaftlicher, extremer in den Tempi, nah und bissig im Klangbild und ohne Lust auf edle Zurückhaltung hat sich Jed Wentz mit seinen Kollegen von Musica ad Rhenum an die „Nouveaux Quatuors“ gemacht – und ohne Scheu, dabei auch mal über das Ziel hinauszuschießen. Wenn, dann wäre dies der Moment für die Champagnerflasche, die wir bei Florilegium kühl gestellt ließen.
Ebenfalls leidenschaftlich, dabei mit sehr dichtem Klangbild (vor allem der stark in den Vordergrund geholten Gambe von Hille Perl geschuldet) geht auch die neuste der besprochenen Aufnahmen des Ensembles „Age of Passions“ an‘s Werk. Dahinter verbergen sich alte Bekannte aus dem Umfeld des Freiburger Barockensembles. Die langjährige Praxis schlägt sich in vielen überraschenden Details nieder, etwa den pfeffrig dazwischenfahrenden Barockgitarrenakkorden in der ersten Suite. Ob das Telemanns galantem Zeitgeschmack entspräche, verursacht keine dogmatischen Skrupel mehr, die Musiker sehen sich als Mitschöpfer. Die Quartette zeigen sich im typischen „Perl-Santana“-Sound – saitenbetont, vollgriffig und rhythmisch kräftig gewürzt –, der sich wie spanischer Wüstenstaub über die Goldpanele unseres Konzertzimmers legt. Diese Lesart hat auf jeden Fall das meiste Fleisch an den Knochen, Geschmackssache ist hingegen das sehr dichte, tieftönige Klangbild, in dem die Flöte manchmal ihre liebe Not hat.
So bleiben am Ende unsere Favoriten Wilbert Hazelzet und Trio Sonnerie um Monica Huggett. Ihr betont durchsichtiger Klang im non-legato-Spiel lässt die Aufnahme von Licht durchfluten, alles ist hell und spritzig, die Verzierungen geschmackvoll und ziseliert, das Zusammenspiel organisch und von Energie durchpulst. Bei zurückgenommenem Cembalo, das in solchem Klangbild sogar den Lautenzug ins Spiel bringen kann, ohne zu verschwinden, liegt der Schwerpunkt auf den Obertönen und damit auf dem Duett von Flöte-Violine, zu dem sich fallweise die Gambe gesellt. Lorbeerzweige für alle, und Applaus an der Seine!

Wilbert Hazelzet, Trio Sonnerie

Virgin/EMI

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Ensemble Florilegium

Channel/New Arts International

Musica Ad Rhenum, Jed Wentz

Brillant/Edel

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Age of Passions (Hille Perl, Lee Santana, Petra Müllejans, Karl Kaiser)

Sony

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Barthold Kuijken, Sigiswald Kuijken, Wieland Kuijken, Gustav Leonhardt

Vivarte/Sony

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John Holloway, Linde Brunmayr, Lorenz Duftschmid, Ulrike Becker, Lars Ulrik Mortensen

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Carsten Hinrichs, 21.02.2015, RONDO Ausgabe 1 / 2015



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