Startseite · Interview · Gefragt
Schmale alte Häuser mit Giebelhauben wie aus Zuckerguss drängen sich um barocke Backsteinkirchen, statt der Touristenströme fließt hier nur das graubraune Wasser der Grachten – kein Platz in ganz Amsterdam hat vermutlich so viel von seinem Charakter bewahrt wie der Noordermarkt im Jordaan, dem ehemaligen Arme-Leute-Viertel westlich der Altstadt. Ein Ort, an dem selbst große Künstler mit kleinen Zimmern auskommen müssen. Seit seiner Studentenzeit lebt Pieter Wispelwey hier, hat hier Bachs Cellosuiten gelernt, während er auf die Fassade der Noordermarkt-Kirche schaute. Kein Wunder vielleicht, dass hier, wo die Geschichte nicht nur gegenwärtig ist, sondern sich auch in einer menschlichen Dimension zeigt, der Umgang mit Tradition selbstverständlicher ist als anderswo. Dass einer, der hier lebt, auch vor den Gipfelwerken der klassischen Musik nicht ehrfürchtig erstarrt, sondern sie durch einen ganz unbefangenen Zugriff zum Leben erweckt. „Wir glauben heute gern, dass große Werke einfach vom Himmel gefallen sind und dass es darin eine einzige Wahrheit zu entdecken gibt“, erklärt Wispelwey, „aber in Wirklichkeit sind die Komponisten selbst doch schon mit ihrer Musik sehr frei umgegangen. Für mich besteht der Reiz beim Bach- oder Beethoven-Spiel dagegen viel mehr darin, immer wieder unterschiedliche Facetten zu entdecken und zu zeigen. Nehmen Sie ein Stück wie die Allemande aus Bachs vierter Suite: Der Grundcharakter ist liebenswürdig, aber da kann Ironisches, Elegantes, Scharfsinniges und Verliebtes mitschwingen – und jedes Mal kann die Mischung dieser Stimmungen anders sein.“
Seine Debütaufnahme mit den Bach-Suiten machte den damals 27-jährigen Schüler von Anner Bylsma und William Pleeth schlagartig bekannt. Seither hat Pieter Wispelwey bei seinem Stammlabel Channel Classics über 30 CDs eingespielt, von Haydn und Vivaldi über Brahms und Tschaikowsky bis zu Ligeti und Gubaidulina fast das gesamte große Cello-Repertoire. Manches davon, wie die Bach- Suiten und die vor kurzem erschienenen Beethoven- Sonaten, gleich zweimal – der wohl deutlichste Beleg für das pragmatische Selbstverständnis des 42-Jährigen: „Eine Aufnahme ist für mich wie ein verewigter Moment, ein festgehaltener Schöpfungsakt sozusagen. Nehmen Sie es wie ein Selbstbildnis: Rembrandt hat sich doch auch nicht nur einmal gemalt – was aber nicht bedeutet, dass seine Selbstporträts deswegen weniger wahr wären. Und deshalb werden Sie vielleicht auch noch die dritte, vierte und fünfte Bach- und Beethoven-Aufnahme von mir erleben. Fischer-Dieskau hat doch auch achtmal die ,Winterreise‘ aufgenommen. Und ich habe alle seine Einspielungen bei mir im Schrank!“
Vor allem seine Beethoven-Aufnahmen verraten freilich nicht nur viel von der Lust des Cellisten Wispelwey am spontanen Musizieren, sondern erzählen auch eine andere Geschichte: die einer allmählichen Emanzipation von den Dogmen der historischen Aufführungspraxis, für die vor allem sein ehemaliger Lehrer am Amsterdamer Konservatorium, Anner Bylsma, der Weggefährte von Frans Brüggen und Gustav Leonhardt, steht. Entstand die erste Aufnahme noch mit Hammerflügel und Darmsaiten- Bespannung, ist die zweite mit seinem Duo- Partner, dem kroatischen Pianisten Dejan Lazić, durch den Versuch geprägt, die Klangwirkung historischer Instrumente auf Stahlsaiten und Steinway-Ton zu übertragen. „Natürlich kann ich die einzigartige Mischung aus Explosivität und Zärtlichkeit nicht vergessen, die diese Musik auf einem Hammerflügel gewinnt“, gibt Wispelwey offen zu, „aber erstens taugt dieser Klang nur für die intimen Konzerträume der Entstehungszeit, und zweitens besteht die Kunst des Interpreten ja nicht darin, die historischen Verhältnisse korrekt zu referieren, sondern darin, den Geist dieser Musik zu suggerieren. Hören Sie doch mal Casals: Der hat Tausende Menschen bezaubert, aber nicht mit seiner Interpretation oder gar seiner Technik, sondern mit seiner Suggestionskraft.“ Die Wahrheit, sagt Pieter Wispelwey, kann man nicht festhalten, sie muss jeden Tag neu gefunden werden. Zum Glück, denn sonst könnte er sein Cello ja gleich einpacken.
Jörg Königsdorf, 28.02.2015, RONDO Ausgabe 4 / 2005
Das Schweigen der Carmen Nebel
Mit „Favorites“ stößt der Tenor in neues und zugleich altvertrautes Terrain vor. […]
zum Artikel
Im Zuge der #metoo-Debatte kommen auch in der Klassik-Branche immer wieder neue Fälle der […]
zum Artikel
Am 2. September 1850 trafen die Schumanns in Düsseldorf ein. Und in der heute am Rande der […]
zum Artikel